Zeitempfinden und Erinnerung
Das subjektive Zeitempfinden hat nur wenig mit der tatsächlichen Geschwindigkeit eines Geschehens zu tun und wird dennoch von ihm geformt. Diese Aussage wird deutlich, wenn das eigene Erleben näher betrachtet wird. Die glücklich verbrachte Zeit vergeht buchstäblich wie im Fluge, während unangenehme Ereignisse kleine Ewigkeiten ausfüllen können. Angst und Langeweile lassen die innere Zeit zu einer zähen Masse werden, Kontemplation und Ekstase können sie zu einem Punkt verdichten oder ganz verschwinden lassen.
Wie schnell die Zeit für einen Menschen vergeht, hängt auch vom Grad der Ungewöhnlichkeit des Erlebens ab. Was neu ist, verlangt nach hoher Aufmerksamkeit. Routine in etwas zu bekommen, bedeutet, spezialisierte neuronale Zentren für eine bestimmte Tätigkeit auszubilden, was wiederum das notwendige Maß an Aufmerksamkeit reduziert. Dies führt zu dem Phänomen, dass lange eingeübte Fertigkeiten am effektivsten sind, wenn sie nur halb bewusst ausgeführt werden. Beispiele für diesen Mechanismus sind etwa Sport, Fahrrad oder Auto fahren.
Wie ungewöhnlich ein Erlebnis ist, hat auch direkte Auswirkungen auf die Erinnerung an dieses Ereignis. Die Zeiten der neuen Erfahrungen in Kindheit und Jugend werden in der Regel intensiver und gedehnter erinnert, als die eher gleichförmigen Jahre voller Routine. Die Intensität der Erinnerung folgt dem Lebensalter jedoch nicht direkt, denn die Jahre der allerersten Erfahrungen liegen fast ganz außerhalb des bewussten Zugriffes. Trauma und Triumph können in jedem Alter tiefe Erinnerungsmarken produzieren. Da die eigene Lebensgeschichte immer aus der jeweiligen Gegenwart heraus erzählt wird, verfügt kein Mensch über ein statisches Inventar an Erinnerungen. Es ist nicht einmal möglich festzustellen, ob eine vergessene Erinnerung wirklich ausgelöscht ist oder nur in einem unbewussten Bereich schlummert, um irgendwann einmal wiederzukehren.
Interkulturelle Untersuchungen verweisen darauf, wie sehr das Zeitempfinden des Menschen gesellschaftlichen Faktoren unterliegt. Mit Hilfe von Fragebögen, qualitativen Interviews und empirischen Beobachtungen wird versucht, diese zweifellos existierenden Unterschiede anhand von Phänomenen wie Pünktlichkeit oder auch der Servicegeschwindigkeit auf Postämtern messbar zu machen. Diese Forschungen neigen jedoch dazu, holzschnittartige Mentalitätsmodelle von weitgehend unverstandenen psychischen Vorgängen zu produzieren.
Dieser Vorwurf gilt auch für die ethnologische Tradition, den „Naturvölkern“ ein fundamental anderes und vorzugsweise zyklisches Zeitempfinden zuzuschreiben, was letztendlich dazu dient, diese Gesellschaften auf positive oder negative Art zu primitivisieren. Jacques Derrida bemerkt treffend, die Zeit als Kreis sei eine mächtige und unvermeidliche Metapher, was verdeutlicht, dass der Glaube an den Fortschritt das eigentlich Exotische ist. Dieser ungewöhnliche Optimismus ist Produkt und Produzent einer zunehmenden Standardisierung der schriftlichen, mechanischen und elektronischen Zeitmessung.
Literatur
Derrida, Jacques (1991) 1993. Falschgeld. Zeit geben I. München: Wilhelm Fink Verlag.
Leenhard, Maurice (1947) 1984. Do Kamo. Die Person und der Mythos in der melanesischen Welt. Berlin: Ullstein.
Texte
- Initiation
- Geschwindigkeit
- Leere
- Rhythmus
- Wunschmaschinen
- Todestag
- Infrastruktur
- Kritik
- Verführung
- Essenzen
- Unsicherheit
- Virus
- Transgression
- Cyborgs
- Normalität
- Einschreibung
- Nervenfeuer
- Blick
- Kosmologie
- Affen
- Erleuchtung
- Geschichte
- Elastizität
- Rassenlehre
- Geld
- Interaktion
- Zweifel
- Machtdimension
- Kopfjagd
- Unwägbarkeit
- Flackern
- Reizbarkeit
- Netzwerke
- Innovationsspirale
- Verausgabung