Erleuchtung

Individuum und Kollektiv

Eine Erleuchtung wird in der Regel als spektakuläres Erlebnis vorgestellt, das die Welt in neuem Licht erscheinen lässt. Durch einen plötzlichen Umschlag wird das Verstehen auf eine neue Ebene gehoben. Es gibt unzählige Beschreibungen individueller Einsicht, die sich hauptsächlich dadurch unterscheiden, ob der beschriebene Weg zur Erleuchtung eher von Mangel und Härte oder von Überfluss und Leichtigkeit gekennzeichnet ist. Die meisten Erleuchtungsgeschichten haben ein Happy End und deuten mehr oder weniger bescheiden einen begehrenswerten Zustand an, der die Eingeweihten gegenüber allen anderen auszeichnet.

Eine kleinere Anzahl von Geschichten wie etwa Ödipus enthalten schlagartige Einsichten, durch die sich die Dinge zum Schlechteren hin wenden und zur eigenen Zerstörung führen. Ein jüngeres Beispiel hierfür ist die literarische Tradition um H.P. Lovecraft, in der das Verständnis der größeren kosmischen Verhältnisse untrennbar mit dem Wahnsinn verknüpft ist. Erzählungen von Erleuchtung oder Blendung drehen sich immer um ein Individuum und dessen scharf abgetrenntes Vorher und Nachher. Die gesellschaftlich wirksamste Erleuchtungsgeschichte der Gegenwart ist die kollektive Sage von der Vernunft, deren konsequente Anwendung eine Reihe von individuellen Durchbrüchen erzeugt und einen ewig zunehmenden Fortschritt verspricht.

Das Thema vom plötzlichen Verstehen erscheint aufgrund seiner weiten historischen und geographischen Verbreitung ebenso unvermeidlich und mächtig zu sein wie die Vorstellung, dass die Zeit kreisförmig verläuft. Alle Varianten dieser Erzählung setzen voraus, dass die alltägliche Wahrnehmung durchbrochen und eine Wahrheit hinter den Dingen erschlossen werden kann. Das ist jedoch trotz aller Beteuerungen höchst zweifelhaft. Die Menschen bewohnen den mittleren Teil der Welt und können sie nur begrenzt verstehen.

Auf die Feststellung, dass nichts sicher gewusst werden kann und sich alles immer verändert, reagieren viele Menschen ablehnend: „Aber irgendetwas muss man doch glauben, wo kämen wir denn hin.“ Die alltäglichen Vorstellungen von Person und Intention setzen voraus, dass jede Verhaltensweise auf einer bewussten Entscheidung basiert. Sie arbeiten mit linearen Abfolgen wie Ursache und Wirkung, Theorie und Praxis, Absicht und Handlung. Dabei wird unterschlagen, dass die meisten zentralen Überzeugungen und befolgten Regelinventare niemals ausdrücklich akzeptiert, sondern unmittelbar als selbstverständlich und richtig empfunden werden. Im Rahmen sozialer Interaktionen wird auf wortlose Weise ein natürlich erscheinendes Selbst- und Weltverständnis geformt. Es handelt sich um weitgehend unverstandene Rückkopplungsprozesse, in denen sich Individuum und Kollektiv gegenseitig produzieren. Die Grausamkeit dieser Realität kann einem nur dämmern.

Literatur

Huxley, Aldous 1954. The Doors of Perception. London: Harper.

Lovecraft, H.P. (1995). The Dream Cycle: Dreams of Terror and Death. New York: Ballantine Books.

Price, Robert M. 1996. The Necronomicon. Selected Stories and Essays Concerning The Blasphemous Tome of the Mad Arab. Oakland: Chaosium Books.

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