Essenzen

Sprache und Wahrheit

Was ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst? Wird die Wahrheit entdeckt oder wird sie gemacht? Derartige Scheinfragen sind der Gegenstand zahlloser gelehrter Ausführungen, in denen erst ein Gegensatzpaar konstruiert und anschließend vermittelt wird. Die Anziehungskraft dieses dialektischen Grundmusters rührt wohl daher, dass jede Sprache auf der Verwendung von Unterschieden basiert.

Linguisten und Semiotiker wie Ferdinand de Saussure und Umberto Eco zeigen, dass die Bedeutung eines Wortes oder Zeichens ausschließlich durch dessen Beziehungen zu anderen Worten oder Zeichen verstanden werden kann. Bedeutung ist nichts, das den Begriffen oder Symbolen irgendwie angeheftet ist, sondern entsteht aus einem fließenden Wechsel von Übereinstimmung und Abgrenzung. Diese strukturalistische Auffassung von Sprache neigt allerdings dazu, sie als abstraktes System zu idealisieren, dessen Regeln unabhängig von einer konkreten Anwendung sind. Diese Tendenz wird von poststrukturalistischen und performanztheoretischen Ansätzen kritisiert, die in Anlehnung an den späten Wittgenstein darauf bestehen, dass Sprache und Wahrheit immer Teil einer sozialen Praxis innerhalb bestehender Machtstrukturen sind. Richtig und falsch kann es nur im gesellschaftlichen Sprachspiel geben.

Die Vorstellung, dass Bedeutung und Wahrheitsgehalt immer erst im sozialen Kontext entstehen, ist nicht unumstritten. Alan Turing bleiben die Einsichten des älteren Wittgenstein fremd, dennoch kann er brillante Sprachtheorien formulieren, aus denen technologische Neuerungen wie Chiffriermaschinen und kommerzielle Computer hervorgehen. Dies gelingt, weil er Sprache in ein mathematisches Regelwerk überführt, das alles berechnen kann, was berechenbar ist. Damit wird Turing zu einem der Wegbereiter der Informationsrevolution, die auf der Ausführung von Algorithmen beruht. Diese abstrakten mathematischen Modelle können sogar morphogenetische Phänomene wie die Entstehung von Fellmustern ansatzweise beschreiben, was jedoch nichts daran ändert, dass es sich dabei um sprachliche Konstrukte handelt, die mehr oder weniger gut funktionieren.

Das Bedeutung auf gesellschaftlicher Aushandlung beruht, steht auch im Gegensatz zu religiösen Vorstellungen von der Welt als „Sprache Gottes“. In dieser Perspektive fallen Sprache und Welt in einem göttlichen Buch zusammen, in dem alle Wesen und Dinge einen „wahren Namen“ haben. Dieses Wort umschließt ihr gesamtes Wesen und wer es kennt, besitzt Macht über das so vollständig Bezeichnete. Wortforschungen dieser Art, in denen die Rollen von Weltenschöpfer und Schriftsteller aufs Engste verknüpft sind, werden sowohl in der Zahlenmystik als auch in der Literaturwissenschaft in ausgeklügelte Höhen getrieben.

Die Praxisgebundenheit von Bedeutung läuft zuletzt auch dem Alltagsverständnis von Sprache zuwider. Wer im täglichen Umgang Worte wie „Nation“ oder „Geld“ benutzt, geht oft ganz selbstverständlich davon aus, dass sie eine feste Bedeutung haben, die unabhängig von ihrer Verwendung ist und beispielsweise in einem Lexikon nachgeschlagen werden kann. Wäre dies tatsächlich der Fall, könnten keine neuen Begriffe entstehen oder alte Worte in Vergessenheit geraten. Sprache ist dynamisch und beruht auf der ausreichenden Übereinstimmung vorläufiger Theorien, die für eine Weile schriftlich fixiert und als Normalität durchgesetzt werden können.

Pragmatisch orientierte Sprachphilosophen wie Richard Rorty wollen zeigen, dass die Neigung, Worten und Zeichen eine zeitlose Essenz zuzuschreiben, zwar funktionstüchtige Ergebnisse liefern kann, aber dennoch eine schlechte Beschreibung von Sprache produziert, die letztendlich zu metaphysisch ausfällt. Sie plädieren für eine Philosophie, die ohne einen übersprachlichen Wahrheitsbegriff auskommt und sich nicht weiter für die Unterschiede zwischen Wissenschaft und Kunst interessiert.

Literatur

De Saussure, Ferdinand 2003. Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlass. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Eco, Umberto 1988. Das Foucaultsche Pendel. München: Carl Hanser.

Hodges, Andrew 1983. Alan Turing: The Enigma. London: Burnett Books.

Malachowski, Alan 2002. Richard Rorty. Princeton: Princeton University Press.

Murphy, John 1990. Pragmatism. From Peirce to Davidson. London: Westview Press.

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