Infrastruktur

Apokalypse und Komfort

Wie würde Deutschland nach einer 28 Tage dauernden Unterbrechung der Stromversorgung aussehen? Apokalyptische Szenarien brauchen keine Zombies. Wenn die Gedärme der Zivilisation versagen, endet die uns bekannte Welt. Der mitteleuropäische Status Quo erfordert eine gewaltige und beständige Verausgabung in Form von Stromleitungen, Abwasserkanälen, Straßen, Kraftwerken, Pipelines, Sendemasten, Wasserrohren, Müllabfuhr, Schienen und vielem mehr. Dennoch halten die Nutznießer dieser Infrastruktur ihren Komfort meistens für vollkommen normal. Der durchschnittliche Deutsche muss derzeit rund 15 Minuten Stromausfall pro Jahr ertragen.

Im Rest der Welt sieht es anders aus. Derzeit leben etwa eine Milliarde Menschen in Slums. Mike Davis kann schreiben, dass die größten Städte des 21. Jahrhunderts nicht zuerst aus Stahl und Glas, sondern aus Sperrmüll bestehen. Für einen bedeutenden Teil der Menschheit hat sich in 10.000 Jahren Städtebau keine nennenswerte Verbesserung der Infrastruktur ergeben. Davis zeichnet ein apokalyptisches und dennoch realistisches Bild der Lebensumstände in den Megastädten der Gegenwart. Der Großteil ihrer Bewohner lebt in ständiger Bedrohung von Armut, Naturkatastrophen, Zwangsräumung, Giftmüll und Gewalt. Das Wasser muss kanisterweise gekauft werden, die wenigen Toiletten schwimmen im Dreck. Medizinische Versorgung und öffentliche Sicherheit sind Glückssache. Jeden Tag fordert fehlende oder privatisierte Infrastruktur ungezählte Todesopfer durch Krankheit, Unterernährung, Vergiftung und Verbrechen. Das ist die grimmige Realität.

Wer über genügende Mittel verfügt, versucht diese höllische Welt so weit wie möglich auszublenden. In den besseren Vorstädten, die nur durch gut gepflegte und beleuchtete Autobahnen mit der Außenwelt verbunden sind, entsteht „Architektur der Angst“ nach südkalifornischem Vorbild. Außerhalb von Kairo liegt das vollständig privatisierte „Beverly Hills“. Peking hat zwei Vorstädte namens „Orange County“ und „Long Beach“. „Palm Springs“ ist eine abgeriegelte Enklave in Hongkong. Dennoch bezahlen die Reichen im Durchschnitt weniger Miete als die Armen. Die höchsten Erträge pro Quadratmeter werden tatsächlich in den überfüllten Slums erzielt. Die Zahl der Bewohner solcher „Mietplantagen“ steigt stetig an und treibt die Ungleichheit der radikalisierten Moderne in immer neue Extreme.

Literatur

Davis, Mike 2006. Planet of Slums. London, New York: Verso.

Giddens, Anthony 1995. Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Klein, Naomi 2007. The Shock Doctrine: The Rise of Disaster Capitalism. New York: Holt.

Kohlhaas, Rem und Harvard Design School Project on the City 2001. Mutations. Harvard.

Levi-Strauss, Claude (1955) 1978. Traurige Tropen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Texte