Kopfjagd

Umschlag und Wiederholung

Zum menschlichen Zeitempfinden gehört das beständige Einteilen in Vorher und Nachher. Die Hoffnung, dass das Vorher ganz plötzlich in ein vollkommen anderes und besseres Nachher umschlagen könnte, motiviert zahllose Gläubige in der ganzen Welt. Dass das tatsächliche Geschehen diesen Erwartungen häufig nicht gerecht wird, können sie durch die gleichzeitige Einbindung der beständigen Wiederholung ausgleichen.

Dieser Mechanismus wird von Ronaldo Rosaldo anhand der Kopfjagden der Ilongot auf den Philippinen beschrieben. Stirbt ein Verwandter, muss der Kopf eines Fremden genommen werden. Die Kopfjagd ist eine Suche nach einem Moment der emotionalen Intensität, in dem sich Trauer und Wut entladen können. Stirbt ein weiterer Verwandter, geht die Blutfehde weiter.

Rosaldo, der kurz zuvor seine Frau, die Ethnologin Michelle Rosaldo, durch einen tödlichen Sturz verloren hat, erkennt seine eigenen Emotionen und seinen Wunsch nach dem plötzlichen Umschlag in seinen Beobachtungen wieder und versucht, sie ritualtheoretisch zu abstrahieren. Ob seine Beschreibung jemals die Psyche eines Ilongot treffend dargestellt hat, lässt sich nicht sagen.

Man muss nicht auf die Philippinen fahren, um eine solche Kopfjagd zu erleben. Manchmal genügt der Besuch einer Freikirche im Süden der Stadt, wo die Köpfe von Dämonen genommen werden. Hier der Auszug eines Gottesdienstes.

Der Kampf gegen Goliath

Der Pastor verkündet, dass es jetzt gegen Goliath gehe, den über die Stadt herrschenden Dämon der Krankheit. Er bittet er alle der etwa 100 Anwesenden, jetzt aufzustehen und ihm nachzusprechen.

„Krankheit / Du bist mein Goliath / Du bist mein Goliath / Du bist Goliath über diese Stadt / Und Goliath, ich prophezeie / Du wirst zerstört werden / Du wirst niedergetrampelt werden / Durch den Glauben des David / Goliath / Ich prophezeie / Du wirst diese Tage / eine Niederlage bekommen / Goliath / Deine Tage sind gezählt / Es kommt Erweckung / Es kommt Erweckung.“

[Der Pastor streckt die Arme aus, was von einigen Anwesenden wiederholt wird.]

„Du wirst fliehen müssen / Goliath / Im Namen Jesus / Wirst du zerstört werden / Goliath / Ich sage dir / heute Abend / Ich kämpfe / gegen dich / gegen dich.“

[Durch Änderung des Tonfalles markiert der Pastor, dass die folgenden Worte nicht nachgesprochen werden sollen.]

„Ich werde nur ein Wort sagen und das wird dieses Schleuder schmeißen sein. Ich möchte, dass Ihr mir das Wort nachsagt, es soll wie eine Schleuder sein. Und das Wort heißt:“

[Wiederholt mehrmals eine Handbewegung, die das Schleudern symbolisiert.]

„AMEN / AMEN / AMEN / AMEN / AMEN.“

[Pustet ins Mikrofon, während die begleitende Keyboardmusik dramatischer wird.]

„Streck’ deine Hände zu Gott jetzt, streck’ deine Hände zu Gott gerade jetzt.“

[Der Großteil der Anwesenden streckt beide Arme weit in die Höhe.]

„Oh, Goliath, du bist besiegt jetzt, ah.

[Sprechen in Zungen für 22 Sekunden]

GOLIATH, DU BIST ZERSTÖRT, DU BIST ZERSTÖRT, GEIST DER KRANKHEIT, DU BIST ZERSTÖRT UND DU BIST ZERSTÖRT UND DU BIST ZERSTÖRT

[Sprechen in Zungen für 5 Sekunden]

GOLIATH DU BIST ZERSTÖRT, DU BIST GEKÖPFT, GOLIATH DEIN KOPF ROLLT JETZT, UND DEIN KOPF ROLLT JETZT UND DEIN KOPF ROLLT JETZT.“

[Sprechen in Zungen für 21 Sekunden]

„Mmmm. Ok, jetzt müssen wir schauen. Während Goliath zerstört worden ist, während gegen Goliath gekämpft worden ist, sind Leute gerade frei geworden. Hier. Ist gerade die Heilungskraft, die hier ist und so Leute die – durch diesen Goliath gefangen waren, krank waren.“

[Der Pastor läuft vor dem Publikum auf und ab, symbolisiert mit der Hand die „Heilungskraft“ und pustet ins Mikrofon.]

„Es berührt gerade dich jetzt, berührt dich jetzt. Der Heilige Geist kommt gerade und er heilt jetzt, er heilt dich jetzt. Es ist gerade hier, es kommt, es heilt dich jetzt. Ich spüre, dass etwas in deinem Körper, in deinem Bauch geschieht, gerade jetzt, gerade jetzt, gerade jetzt. Haah! Viel mehr, viel mehr. Heiliger Geist mach’ es jetzt, mach’ es, mach’ es. Mmmm, gerade im Bauchbereich, in deinem Gedärmbereich, im Magenbereich. Geschieht gerade jetzt, gerade jetzt, geht raus von dir.

ES GEHT RAUS. Oh, wo der Geist des Goliaths dich gebissen hat, es geht jetzt weg von dir, es geht jetzt weg von deinem Bauch. Es geht jetzt weg. Mmm, Frauen, die ganz Schmerzen gehabt haben, ihre Tage gehabt haben, Menstruation, es geht jetzt weg, jetzt weg, du spürst, es berührt jetzt deinen Bauch, gerade jetzt in deinen Bauch rein, es geht jetzt rein. Es geht jetzt, jetzt in den Bauch, jetzt. Es kommt, es kommt, es kommt noch mehr, viel mehr. Noch mehr, oh. Oh, gerade jemand mit der Schulter, deine Schulter wird jetzt geheilt. Sie wird jetzt, jetzt geheilt. Du konntest schon fast nicht mehr die Schulter bewegen, es kommt jetzt, jetzt kommt es, es kommt, es kommt jetzt in dich hinein.“

[Der Pastor läuft nach wie vor umher und deutet jeweils auf die angesprochenen Körperteile oder bewegt diese. Der Großteil der Anwesenden steht währenddessen mit geschlossenen Augen und gesenkten Armen da. Einzelne Teilnehmer fassen sich an die jeweils betroffenen Körperteile oder machen verschiedenen Dehnbewegungen.]

„Gerade jemand, der an den Ohren, jemand, der an den Ohren, so ein Pfeifen in den Ohren, es geht jetzt weg, es geht jetzt weg. Viel mehr. Es ist einfach da, es ist einfach da. Auch jemand am Kreuz, es geht gerade jetzt, es löst sich etwas in deinem Kreuz, es geht jetzt weg, gerade jetzt weg.“

Der Pastor versichert, dass die Kraft des Heiligen Geistes noch im Raum sei und gewiss schon „20, 25“ Leute geheilt worden seien. Er fordert die Anwesenden auf, ihre Symptome zu überprüfen, es hätte sich vieles gelockert. Er bittet alle, die geheilt wurden, nach vorn. Es versammeln sich insgesamt 13 Leute, die vom Pastor nebeneinander in Richtung des Publikums aufgestellt werden. Er tue dies, um Goliath zu zeigen, dass er verloren habe, der Anblick geheilter Menschen solle ihn zornig machen. Zehn der stehenden Teilnehmer werden vom Pastor aufgefordert, von ihrer Heilung zu berichten. Die Geheilten berichten von einem Verschwinden der Rücken- oder Bauchschmerzen, wobei jedes Zeugnis mit einem Dank des Pastors an Gott und vom Klatschen des Publikums beendet wird. Der Applaus wird besonders laut, als ein Mann mittleren Alters das Verschwinden seiner Diabetes verkündet.

Wunder gibt es immer wieder

Im Verlauf des Gottesdienstes wird ein narrativer Spannungsbogen erzeugt, auf dessen Höhepunkt schließlich der Kopf des Dämons genommen wird. Gleichzeitig ist der Ablauf von Wiederholungen auf mehreren Ebenen geprägt. Darunter sind der stark redundante, performative Sprache des Pastors zu nennen, die immer wiederkehrende Feststellung der Anwesenheit des Geistes Gottes, das mehrmals wiederholte „Schleudern“ des Wortes „Amen“, die doppelte Konfrontation mit dem über die Stadt herrschenden „Goliath“ und schließlich auch die Ankündigung der zahlreichen Niederlagen in der Zukunft – es steht zu keinem Zeitpunkt außer Frage, dass die siegreiche Schlacht erneut geschlagen werden muss. In der sich stets wandelnden Welt rollen immer wieder Köpfe.

Literatur

Rosaldo, Ronaldo 1993. Der Kummer und die Wut eines Kopfjägers. Über die kulturelle Intensität von Emotionen. In: Berg, Eberhard und Fuchs, Martin (Hrsg.). Kultur, soziale Praxis, Text. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Storck, Thorsten 2008. Die Ausstrahlung Gottes. Eine Analyse medialer Selbstrepräsentationen pfingstlich-charismatischer Christen in Deutschland. Heidelberg: Universität Heidelberg.

Texte