Kritik

Aufklärung und Barbarei

Das 18. Jahrhundert gilt als das Zeitalter der Aufklärung, das seinen Höhepunkt in der französischen Revolution und der Enthauptung des absoluten Herrschers durch seine bürgerlichen Kritiker findet. Die klassische Definition von „Aufklärung“ stammt von Immanuel Kant und beschreibt sie als „Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Anstatt vernünftig zu denken, übernehmen die Menschen die Lehren ihrer Umwelt unhinterfragt und ketten sich an eine künstliche Normalität, die für natürlich gehalten wird. Die Möglichkeit, diese Unfreiheit durch Rationalität zu überwinden, macht für Kant die Würde des Menschen aus. Die Vernunft trennt die Menschen von Tieren und Maschinen und nur deswegen sind sie Zwecke, die nicht auf Mittel reduziert werden dürfen.

Diese ethische Haltung lässt sich wie jede andere als historische Zufälligkeit kritisieren, die keine universale Gültigkeit beanspruchen kann. Zusätzlich lässt sich zeigen, dass rationale Überlegungen nur einen geringen Anteil am psychischen Geschehen haben. Als möglicherweise beste Antwort auf dieses Dilemma formuliert Richard Rorty die utopische Idealfigur der „liberalen Ironikerin“. Sie ist sich darüber im Klaren, dass ihre zentralen Überzeugungen das Produkt zufälliger Entwicklungen sind, und vertritt die Ideale der Aufklärung dennoch – mit der Begründung, dass Grausamkeit das Schlimmste ist, was wir tun können.

Wenn aufgeklärtes Denken im weitesten Sinne als eigenständige Kritik verstanden wird, können Elemente der Aufklärung in den ältesten Überlieferungen wiedererkannt werden. Horkheimer und Adorno beschreiben die Odyssee von Homer als bürgerlich liberales Projekt, das die ältere Mythologie in den Hintergrund rückt und ein einheitliches Subjekt erzeugt, das sich gegen den Rückfall und die Auflösung in chthonische Zustände wehrt. Das aufgeklärte Denken beschränkt sich für sie nicht auf das 18. Jahrhundert, sondern beschreibt eine allgemeine kritische Haltung: „Uralt muss die Erfahrung sein, dass die symbolische Kommunikation mit der Gottheit durch das Opfer nicht real ist.“

Für Horkheimer und Adorno besteht die „Dialektik der Aufklärung“ darin, dass das anzweifelnde Denken die Symbole der Herrschaft als Werkzeuge der Macht entlarvt und durch Kritik zu größerer Freiheit führen kann. Gleichzeitig verkleinert die Aufklärung die Menschen zu quantifizierbaren Organismen, die in bisher ungekannten Ausmaßen verwaltet, kontrolliert, gezüchtet und vernichtet werden können. Diese Biopolitik wird von einem Positivismus getragen, der nur berechnet, was berechenbar ist, und dem sich metaphysische Fragen gar nicht erst stellen. Ein Stamm ist barbarisch, wenn er das Nachbardorf niederbrennt, doch diese Grausamkeit verblasst neben der kalten Logik der Massenvernichtung. Die unbarmherzige Verwaltung von Menschen nach Zahlen, die Mord zu einer reinen Subtraktion werden lässt, ist die größere Barbarei.

Dass die Aufklärung zu größeren Freiheiten und immer umfassenderen Ungerechtigkeiten gleichermaßen führt, kommt in der öffentlichen Rede der Mächtigen nicht vor. Dennoch besteht das Inventar der politischen Sprache der Gegenwart zum größten Teil aus aufgeklärtem Vokabular. Es wird unablässig von Menschenrechten, Bürgerbeteiligung und Transparenz gesprochen. Einige versprechen gar „brutalstmögliche Aufklärung“. So wird der Befreiungsimpuls zur zynischen Herrschaftsgeste.

Augustinus von Hippo stellt vor über 1.500 Jahren fest, dass ungerechte Vertreter des Staates nichts weiter als die jeweils am besten organisierte Gruppe von Kriminellen sind. Staatliche Gewalt ist nur dann legitim, wenn sie für die tatsächliche Durchsetzung von Gerechtigkeit sorgt. Andernfalls herrschen alle möglichen Sorten korrupter und gewalttätiger Organisationen, die für eine Weile den Anschein, eine Ordnungsmacht zu sein, erwecken können. Aufgeklärte Kritik fragt danach, zu welcher Gruppe ein bestimmtes Machtzentrum gehört und wie freiheitliche Spielräume gegen religiöse, wirtschaftliche und staatliche Herrschaftsansprüche durchgesetzt werden können.

Kritik

Literatur

Koselleck, Reinhart 1959. Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. 1969. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: S.Fischer.

Kant, Immanuel 1784. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. Berlinische Monatszeitschrift, Dezember-Heft.

Texte