Narzissmus habe ich bisher als übertriebene Selbst-Liebe verstanden, nun aber mehr darüber gelesen und gelernt, dass Narzissmus auch mit einer schlechten Meinung von sich selbst einhergehen kann und das vielleicht auch häufiger tut. Daher wird Narzissmus besser als übertriebene Beschäftigung mit dem Selbst verstanden. Alles oder mindestens zu Vieles wird auf die Einschätzung der eigenen Person hin wahrgenommen und bewertet. Dabei geht es weniger darum, wie man sich selbst findet, sondern wie gut oder schlecht man aus einer „neutralen“ Perspektive gesehen tatsächlich ist. Die narzisstische Frage ist: Wie bin ich wirklich?
Natürlich kreist zu einem gewissen Grad jeder um sich selbst, wir fühlen uns als Subjekt, unsere Gedanken, Wünsche, Ängste und Träume sind uns in einer einzigartigen Weise zugänglich. Wie andere sind, fühlen, denken, das alles leiten wir aus dieser Erfahrung ab. Alle in sich drin.
Übersteigerter oder krankhafter Narzissmus liegt dann vor, wenn die Frage nach dem eigenen Wert alles andere überstrahlt, es ist nicht nur die zu gute oder zu schlechte Meinung, sondern die ständige Beschäftigung mit der Einschätzung. Es geht nicht darum, was Narziss im Wasser gespiegelt sieht, sondern dass er den Blick nicht abwenden kann. Ein aktuelles literarische Beispiel dafür ist Karl Ove Knausgård.
Gnothi seauton! Echt?
Das alte philosophische Motto „Erkenne Dich selbst!“ ist ein mehrschneidiges Schwert. Im besten Fall erkennt man sich als begrenztes, schwaches Wesen, das ganz von Zeit und Gesellschaft geformt wurde und sich nur in geringen Schattierungen von anderen unterscheidet. Und kann damit leben.
Im schlechteren Fall fragt man verunsichert narzisstisch nach dem eigenen Wert, vergleicht sich ständig und begibt sich auf eine oft fruchtlose Suche nach Ursachen und Gründen.
Im schlimmsten Fall erkennt man zu viel und erfährt Wahrheiten, die das eigene Selbstbild vollkommen zerstören, wie etwa bei Ödipus. Es kann also auch besser sein, nicht alles zu wissen.
Heute mehr Narzissmus als früher?
Ist die häufig gestellte Diagnose der „narzisstischen Gesellschaft“ zutreffend? Zu einem gewissen Grad bestimmt, und dafür sind zwei nicht per se schlechte Faktoren ausschlaggebend: Individualismus und Wohlstand.
Zumindest der Ideologie nach leben wir in einer meritokratischen Gesellschaft, die individuelle Errungenschaften besonders belohnt. Dabei wird die Tatsache ausgeblendet, dass die Leistungen der Einzelnen zum allergrößten Teil von ihrer Herkunft und den bestehenden ungerechten Verhältnissen geschuldet sind. Doch dass die Idee verschleiernd wirkt, ist nicht ihre Schuld und macht sie nicht schlechter. Wer den grassierenden Individualismus geißelt, kann selten mit besseren Vorschlägen aufwarten, sondern verfällt meistens in Träumereien von religiösen, faschistoiden oder sonstigen totalitären Gesellschaftsstrukturen, in denen eigentlich niemand leben will.
When will I be famous?
Sich ständig mit anderen zu vergleichen, gilt als sicheres Rezept für persönliches Unglück, doch in einem ideologischen System, in dem jeder Einzelne seinen Wert erst einmal beweisen muss, ist es wohl eine der wichtigsten Tätigkeiten. Als größte objektive Anerkennung des Wertes eines Individuums gilt die Berühmtheit, die darum auch am meisten begehrt wird. Wäre unsere Gesellschaft tatsächlich ganz auf persönliche Leistungen ausgerichtet, wäre das eine gute Sache. Doch stattdessen wird Berühmtheit zu einem Wert an sich, der Grund dafür ist sekundär. Das gilt auch für das starke Selbstbewusstsein – es gilt als ungeheuer wichtig, unabhängig davon, ob es dafür gute Gründe gibt oder nicht.
Verwandtschaft – Fluch und Segen
Die kapitalistische Wirtschaftweise tendiert dazu, Verwandtschaftsbeziehungen mit Ausnahme der Kernfamilie aufzulösen. Über die Kleinfamilie hinausgehende Verwandtschaftsloyalitäten werden heute oft als „Clan-Strukturen“ bezeichnet und haben einen anrüchigen Beigeschmack. Damit gehen Netzwerke der Zugehörigkeit und der Unterstützung verloren, die den Einzelnen allein mit einer unübersichtlichen Anzahl gesichtsloser Institutionen zurück lassen. Doch es ist auch eine Befreiung vom sozialen Druck zur Konformität, von kleingeistiger Enge und schrecklichen Menschen, die zufällig als Verwandte gelten. Wer möchte schon einen Groß-Onkel, der sich ganz selbstverständlich dafür verantwortlich hält, wie man lebt?
Dietmar Dath hat den schönen Satz geschrieben: „Blutsverwandtschaft ist eine Geisteskrankenheit.“ Bei der Geburt wird, je nach Kultur und Zeit, ein bestimmter Satz an maßgeblichen Verwandten zugeordnet, die man sich eben nicht aussuchen kann. Verwandtschaftsbeziehungen lassen sich nicht ändern. Man kann mit den Eltern oder Geschwistern oder sonst wem brechen, aber es gibt keine neuen. Diese Einbettung ist die tiefste vorstellbare soziale Sicherung, nichts kann ein größeres Gefühl der Geborgenheit vermitteln – und nichts größere Unterdrückung. Rein zahlenmäßig gibt es vermutlich mehr Menschen, die der verwandtschaftlichen Enge entkommen möchten als umgekehrt. Sich einsam zu fühlen und sich zu sehr mit sich selbst zu beschäftigen, ist ein Problem der Privilegierten.
Money, Money, Money
Wer sich das Zimmer mit fünf anderen teilt, muss automatisch mehr Rücksicht nehmen als einsame Einzimmer-Bewohner. Wenn die Sorge um Geld und den Zugang zu Infrastruktur die meiste Zeit in Anspruch nehmen, wird die Messung des eigenen Wertes nicht weniger, aber sehr viel einfacher: Wie viel verdienst Du? Kannst Du deine Familie versorgen? Das sind eindeutige Fragen, auf die man sich klare Antworten geben kann. Sich über den eigenen Wert im Unklaren zu sein und zu sehr nach den richtigen Maßstäbe dafür zu suchen, erfordert einen gewissen Grad an Reichtum, der die rein monetäre Messung unzureichend werden lässt. Wer lieber arm ist, will zumindest berühmt sein.
Zweifellos führen Individualismus und Wohlstand zu mehr gesellschaftlichem Narzissmus, doch wer das nur schlecht findet, sollte sich die Alternativen vor Augen führen.