Psychose: Computer-Chip im Kopf

Hinweis: Wenn Sie über eine Suchmaschine hierher gelangt sind und das Gefühl oder den Verdacht haben, dass sich in Ihrem Kopf ein Chip befindet, dann erleben Sie möglicherweise gerade eine psychotische Episode. Das muss nicht schlimm sein, aber Sie sollten sich Hilfe holen.


Chip im Kopf

„Ich hatte dann die Stimmen von allen meinen Kumpels im Kopf. Die haben alles, was ich gedacht habe, abfällig kommentiert. Ich dachte auch, ich hätte einen Chip im Kopf, mit dem meine Gedanken gelesen werden können. Die konnten mich auch damit ausschalten. Ich dachte, wenn der Chip raus ist, bin ich ein besserer Mensch, viel leistungsfähiger. Das hat sich so echt angefühlt.“

Dieses Zitat stammt von einem jungen Mann, der unter dem Einfluss von Crystal Meth und Cannabis immer wieder psychotische Episoden erlebt hat. Es steht für eine verbreitete Tendenz: Vorstellungen von Computer-Chips, Antennen oder Mikrofonen, die im Gehirn verbaut wurden, sind wiederkehrende Themen in den zeitgenössischen Berichten über Psychosen. In einer Zeit der verirrten Metaphern, die zwischen Technologie und Organismus nicht klar unterscheiden – etwa wenn das Gehirn als ein Prozessor bezeichnet wird, oder Computer von Viren befallen werden – mag das nicht sehr überraschend sein. Doch wie lange gibt es das schon? Dieser Frage möchte ich nachgehen.

Die ersten Berichte über „Beeinflussungsapparate“

Eine Spur in diese Richtung findet sich im „Anti-Ödipus“ von Deleuze und Guattari.i Sie verweisen auf einen Artikel von Victor Tausk, einem Studenten Freuds, aus dem Jahr 1919. In dem einflussreichen Artikel „Über die Entstehung des ‚Beeinflussungsapparates‘ in der Schizophrenie“ berichtet er, dass Vorstellungen von Maschinen, mit denen Gedanken gelesen und beeinflusst werden können, durchaus verbreitet seien. Die Eigenheiten der Maschinen entsprechen den damals verbreiteten Technologien. Ihre genaue Funktionsweise kann jedoch in der Regel nicht erklärt werden. Tausk schreibt:

„Der schizophrene Beeinflussungsapparat ist eine Maschine von mystischer Beschaffenheit. Die Kranken vermögen seine Konstruktion nur andeutungsweise anzugeben. Er besteht aus Kästen, Kurbeln, Hebeln, Rädern, Druckknöpfen, Drähten, Batterien u. dgl. Gebildete Kranke bemühen sich, mit Hilfe der ihnen verfügbaren technischen Kenntnisse die Zusammensetzung des Apparates zu erraten und es zeigt sich, daß mit dem Fortschritt der Popularität der technischen Wissenschaften nach und nach alle im Dienste der Technik stehenden Naturkräfte zur Erklärung der Funktionen des Apparates herangezogen werden, daß aber alle menschlichen Erfindungen nicht ausreichen, um die merkwürdigen Leistungen dieser Maschine, von der sich die Kranken verfolgt fühlen, zu erklären.“

Die Beeinflussungsapparate nehmen also die Gestalt der jeweils zeitgenössischen Technologien an, ihre Fähigkeiten gehen jedoch weit über das technisch Mögliche hinaus. Das wird besonders deutlich wenn ich, den Wikipedia-Einträgen zu Victor Tausk folgend, auf den ersten vollständig dokumentierten Einzelfall von paranoider Schizophrenie in der Psychiatrie stoße.

Im Jahr 1810 beschrieb John Haslam die Wahnvorstellungen von James Tilly Matthews. Dieser walisische Teehändler hugenottischer Abstammung hatte die Wirren der französischen Revolution mitgemacht und wurde nach einem Skandal im britischen Unterhaus festgenommen. Später wurde er in die Psychiatrie Bethlem eingeliefert, wo er von einem „Air Loom“, also einem „Luft-Webstuhl“, berichtete, der mit den Mitteln der pneumatischen Chemie und des Magnetismus in der Lage sei, aus der Ferne Gedanken zu lesen und zu manipulieren. Matthews selbst fertigte eine beeindruckende Zeichnung dieser Beeinflussungsmaschine an.

Erklärungsversuche: Rückschritt in die Kindheit?

Wie kann man sich solche Apparate einbilden? Victor Tausk versteht die Krankheit als eine Zurückentwicklung auf eine Stufe der frühen Kindheit, in der die Grenzen des Ichs noch nicht wahrgenommen werden. Da es auf dieser Stufe noch keine Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt gäbe, würden die eigenen Gedanken als fremd und von außen gemacht wahrgenommen. In der Tradition Freuds geht Tausk davon aus, dass es sich bei der Maschine um ein Symbol handelt. Der Beeinflussungsapparat stehe für den Körpers der Kranken und die Vorstellung entspreche einem Stadium, in dem der ganze eigene Körper als Genital wahrgenommen werde.

Dabei handelt es sich selbstverständlich um reine Spekulation, denn niemand kann wissen, ob die Wahrnehmung von Säuglingen mit dem Erleben von Psychotikern vergleichbar ist. Daher ist der Rückschritt auf eine frühkindliche Stufe, der freudianische Ansatz für die Erklärung der meisten psychischen Defekte, kaum belegbar. Bei dem von mir eingangs erwähnten Fall handelt es sich um einen erwachsenen Menschen, der keine kindlichen Verhaltensmuster zeigt. Die Wahrnehmung der eigenen Gedanken als fremde Stimmen oder von außen irgendwie eingeschleuste Dinge scheint mir wenig mit der frühen Kindheit zu tun zu haben.

Die Deutung der Beeinflussungsmaschine als Symbol für den Menschen selbst wird auch noch in der Gegenwart gerne benutzt. Die Autorin Brooke Gladstone führt das Fallbeispiel von Victor Tausk an, um zu erklären, dass die Furcht vor neuen Medientechnologien letztendlich die Furcht vor uns selbst sei.

Paranoische Maschinen und Wunschmaschinen

Deleuze und Guattari halten die Interpretation der Beeinflussungsapparate als Symbole des eigenen Körpers dagegen für verfehlt. Das hat mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung der freudianischen Vorstellung zu tun, dass das Unbewusste eine Instanz ist, die der Verdrängung unterliegt und sich über Symbole und Metaphern ausdrückt. Für sie ist das Unbewusste viel mehr ein Produktionsprozess, der mit Verbindungen und Einschnitten operiert. Dabei entsteht auch das Gefühl, ein Subjekt zu sein und die Fähigkeit, mit Symbolen und Metaphern zu operieren. Das Unbewusste gleiche eher einer Fabrik als einer Theaterbühne (auf der beispielsweise der Ödipus aufgeführt wird), es ist „elternlos“ und weiß noch nichts von Personen. Daher sind die Beeinflussungsapparate auch keine Symbole für etwas anderes, etwa den Körper oder die Genitalien der erkrankten Person, sondern „paranoische Maschinen“, die aus der Konfrontation mit den unerträglich gewordenen „Wunschmaschinen“ und dem „organlosen Körper“ entstehen.

Eine ausführliche Darstellung der Konzepte und Funktionsweisen der Psyche, die diese beiden Theoretiker entwerfen, würde uns zu weit weg von den Chips in den Köpfen zeitgenössischer Psychotiker führen. Daher soll es zunächst genügen, festzustellen, dass die Beeinflussungsmaschinen wohl keine Symbole für etwas anderes sind, sondern wahnhafte Vorstellungen, deren Inhalt mit der jeweils aktuellen Technologie zu tun hat.

Krankheit zeigt Normalität

Diese Vorstellungen sind krankhaft, weil etwas bei der üblichen Beantwortung der selten direkt gestellten, aber immer präsenten Frage „Wer ist es, der denkt?“ schief läuft. Eine gute Annäherung bieten die im Eingangszitat erwähnten akustischen Halluzinationen, wie: „Ich hatte die Stimmen aller meiner Freunde im Kopf“. In einer Gesprächssituation erreichen Schallwellen das Ohr und werden im Gehirn zu verständlicher Sprache umgeformt. Dazu gehört Zuordnung der Quelle – diese und jene Person hat dies und das gesagt. Wer die Stimmen seiner Freunde hört, obwohl diese weder etwas gesagt haben noch anwesend sind, hat Gedanken, die einer falschen Quelle zugeordnet werden. Für die Betroffenen ist das schwer zu glauben, da sie ihre eigenen Gedanken als die Stimmen anderer wahrnehmen, so als hätten sie diese gehört.

Im Fall tatsächlicher Personen kann die Wahrnehmung jedoch noch einigermaßen einfach hinterfragt werden – man sieht ja, dass sie nicht da sind und das nicht gesagt haben können. Anders liegt der Fall bei Stimmen, die übernatürlichen Wesen zugeschrieben werden. Wer glaubt, einen Dämonen oder Jesus zu hören, kann die An- oder Abwesenheit der Quelle nicht kontrollieren. Aus Sicht der Gesunden hat diese Person eigene Gedanken, die von den Betroffenen jedoch jemand anderem zugeschrieben werden. Genauso ist es beim Chip im Kopf – es sind nicht die eigenen Gedanken. Eine fremde Macht hat sich mit Hilfe von Technologie ins Denken geschoben und kann es kontrollieren und beeinflussen.

Diese Fehlleistungen lassen den normalen Stand der Dinge schärfer hervortreten. Wir gehen davon aus, Subjekte mit eigenen Gedanken zu sein, die anderen auf diese Weise nicht zugänglich sind und sich beispielsweise klar von akustischen Wahrnehmungen unterscheiden. Damit geht ein Gefühl von Kontrolle einher, dass sich bei genauerer Betrachtung als Illusion erweist. Wie schwer fällt es uns beispielsweise, bestimmte Gedanken nicht zu haben, obwohl wir sie nicht wollen? Oder uns auf eine Sache zu konzentrieren, ohne abzuschweifen? Können wir bestimmen, an was wir uns erinnern und was wir vergessen?

Die grundlegende Illusion ist gestört

Es gibt viele psychische Prozesse, die sich unserer Kontrolle weitgehend entziehen und dennoch können wir uns alltäglich als selbstbestimmte Subjekte mit ureigenen Gedanken verstehen. Diese grundlegende Überzeugung ist einfach da und ohne sie wäre das Leben, wie wir es kennen, nicht vorstellbar. Sie kann verstandesmäßig hinterfragt werden, etwa in dem Sinne, dass unser Gehirn dieses Gefühl der Subjektivität irgendwie erst erzeugen muss, was vermutlich im Kindesalter beginnt. Es darf allerdings niemals aufhören, denn sonst würden wir uns nicht mehr als eigene Personen verstehen.

Genau dieser Prozess scheint in der Psychose gestört zu sein, wenn innerpsychische Vorgänge als von außen kommend und fremd wahrgenommen werden. Normalerweise können wir unseren inneren Dialog klar von äußeren Quellen unterscheiden und es ist schwer vorstellbar, wie es anders sein könnte. Doch in der Psychose können nicht nur die Gedanken, sondern auch die Zuordnung ihrer Quellen durcheinander geraten. Im Eingangszitat wird unterstrichen: „Das fühlte sich so echt an“. Vermutlich fühlte es sich genauso echt an, wie es sich echt anfühlt, eine einheitliche Person zu sein. Kein Wunder, dass sich Psychotiker nur oberflächlich vom Gegenteil überzeugen lassen.

Computer-Chips sind zentrale Lebenswirklichkeit

Die erste psychiatrisch dokumentierte Beeinflussungsmaschine von James Tilly Matthews stammt aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Sie basierte auf dem Modell eines Webstuhls – der Maschine, die eine zentrale Rolle in der ersten industriellen Revolution spielte.

Komplizierte Mechanismen wie etwa Uhrwerke oder die Nutzung natürlicher Energiequellen durch Mühlen gab es auch schon vorher, doch erst die mechanischen Webstühle sorgten zunächst in England und dann im Rest Europas für große soziale Umwälzungen wie Urbanisierung und Proletarisierung. Die Lebenswirklichkeit von Matthews war zutiefst durch die Maschinen, von denen er sich gequält glaubte, geprägt. Dieser Befund lässt sich auch auf die Einbildung vom Computer-Chip im Kopf in der Gegenwart übertragen. Der Chip im Kopf beschreibt die Invasion einer Maschine in die Lebenswirklichkeit und stößt uns auf das Verhältnis zu den Technologien, die uns umgeben.

Menschen und Maschinen

Im Alltagsverständnis sind die Unterschiede zwischen Menschen und Maschinen klar: Menschen sind Lebewesen, die unbelebte Maschinen herstellen können. Seit der Aufklärung und der ersten industriellen Revolution gibt es jedoch regelmäßig Vergleiche dieser beiden Kategorien. Denn auch Menschen werden von Menschen gemacht und Materialisten können fragen, was der Mensch denn anderes sei, als eine komplizierte Maschine.

Der wenig beliebte Aufklärer Julien Offray de La Mettrie bezeichnete den Menschen als „erleuchtete Maschine“, die „selbst ihre Triebfedern aufzieht“.ii Sie sei aus Milliarden kleinerer Apparate zusammengesetzt, deren genaue Funktionsweise zunächst unbekannt ist. Er erteilt der Trennung von Geist und Materie eine klare Absage. Die Seele oder Psyche sind für ihn organische Effekte, deren Arbeit nur durch Beobachtung erhellt werden kann. Den Philosophen seiner Zeit wirft er vor, vom Sessel aus nutzlose Metaphysik zu erdenken. Um zu erfahren, woraus die Menschen bestehen, sollten sie besser den Ärzten über die Schultern schauen. Entsprechend sind die eleganten Ausführungen de La Mettries vor allem auf der Anatomie und dem Vergleich von Tieren und Menschen aufgebaut. Seine Metapher vom Mensch als Maschine – er führt, seiner Zeit entsprechend, immer wieder komplizierte Uhrwerke an – richtet sich in erster Linie gegen den Glauben einer übernatürlichen Herkunft des Menschen. Wer die Wunder der Natur und die begrenzten Erkenntnisfähigkeiten der Menschen anerkennt, brauche solche Vorstellungen nicht.

Kopplungen sind interessanter als Vergleiche

Die Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Menschen und Maschinen ist letztendlich immer ein mehr oder weniger fruchtbarer Vergleich von Metaphern, der hier nicht weiter fortgesetzt werden muss. Interessanter ist die Verbindung von Maschinen und Menschen im Rahmen der Technologie, in die sie eingebunden sind und die immer bestimmte Fertigkeiten voraussetzt. Die Menschheit, wie wir sie kennen, hat sich überhaupt erst mit und durch diese Fertigkeiten entwickelt. Dass Maschinen und Körper durch Technologie aneinander gekoppelt sind und nicht als Gegensatz gedacht werden sollten, versucht der Medientheoretiker Marshall McLuhan zu verdeutlichen, wenn er schreibt:

„Ein Indianer ist der Servomechanismus seines Kanus, wie der Cowboy der seines Pferdes oder der Beamte der seiner Uhr ist.“iii

In die gleiche Richtung gehen die Ausführungen von Deleuze und Guattari. Sie verwenden für die gesellschaftlich-technologischen Kopplungen zwischen Lebewesen und Dingen den wohl weitest möglichen Begriff einer Maschine:

„Nicht mehr geht es darum, Mensch und Maschine zu konfrontieren, um darin die möglichen oder unmöglichen Korrespondenzen, Verlängerungen und Ersetzungen des einen oder anderen einzuschätzen, vielmehr darum, beide zu verbinden und zu zeigen, wie der Mensch mit der Maschine, oder wie er mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren. Die anderen Dinge mögen Werkzeuge, selbst Tiere oder andere Menschen sein. Doch ist von >>Maschine<< nicht im metaphorischen Sinn die Rede: der Mensch ist eine Maschine von dem Augenblick an, da dieser Charakter dem Komplex, dem er unter genau bestimmbaren Bedingungen angehört, per Rekursion übermittelt wird. Der Komplex Mensch-Bogen-Pferd stellt eine nomadische Kriegsmaschine unter den Bedingungen der Steppe dar. Die Menschen bilden eine Arbeitsmaschine unter den bürokratischen Bedingungen der großen Reiche. Der griechische Hoplite bildet mit seinen Waffen eine Maschine unter den Bedingungen der Phalanx.“

Folgt man Deleuze und Guattari, ist die Frage: Was wären die genau bestimmbaren Bedingungen der gesellschaftlichen Maschinen der Gegenwart? Nach der mehrhundertjährigen Geschichte der Industrialisierung und ihren analogen Technologien ist die jüngere Vergangenheit besonders von der siliziumbasierten Massenproduktion von Information durch Digitalisierung geprägt. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Organisation der sozialen Welt läuft in der Gegenwart durch digitale Schaltkreise: Chips. Anstatt Pferd-Mensch-Bogen setzt sich der gesellschaftliche Maschinenkomplex von heute – unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus – wohl aus Auto-Mensch-Smartphone zusammen.

Cyborgs!?!

Im Zusammenhang der Kopplung von Menschen und Maschinen wird der Begriff „Cyborg“ häufig und auf unterschiedliche Weisen verwendet. Im weiten Sinn sind die Menschen schon immer Cyborgs gewesen, denn sie sind in Maschinenkomplexen organisiert. Fasst man den Begriff enger und bezieht sich auf eine direkte Kopplung von Mensch und Technik, ist ein mittelalterlicher Ritter ein gutes Beispiel. Durch einen hohen Sattel und Steigbügel mit seinem Pferd verbunden, mit eiserner Haut gepanzert und mit einer Lanze ausgestattet, bildet er – vor allem wenn in eine Reihe mit anderen Rittern geschaltet – eine durchschlagkräftige Kriegsmaschine.

Im engsten und häufigsten benutzten Sinn geht bei einem Cyborg die Technologie „unter die Haut“. Dazu gehören beispielsweise der Wissenschaftler Kevin Warwick, der sich RFID-Transmitter und Elektroden hat einsetzen lassen, oder der Künstler Wafaa Bilal, dem eine Kamera in den Hinterkopf implantiert wurde. Deutsche Cyborgs haben selbstverständlich ihren eigenen Verein.

Wir bilden zwar im Zusammenspiel mit Computer-Chips einen gesellschaftlichen Maschinenkomplex, doch in unseren Köpfen kommen sie noch recht selten vor. Die Vorläufer sind aber schon weit verbreitet. Beispielsweise ist meine Tante an Parkinson erkrankt und bekam vor einigen Jahren einen Hirnschrittmacher eingesetzt. In ihre Schädeldecke wurden mehrere Löcher gebohrt und Elektroden angebracht, die mit elektromagnetischen Impulsen bestimmte Hirnareale beeinflussen und die Krankheitssymptome abdämpfen können. Hinter ihrem Ohr führt ein Kabel zum Bereich unter ihrem Schlüsselbein, wo die Batterie des Gerätes verstaut wurde. In ihrer Handtasche hat sie stets eine Fernsteuerung, mit der das Gerät im Notfall abgeschaltet werden kann.

Weiterhin gibt es Herzschrittmacher, die mit Antennen ausgestattet sind und Daten senden können. Ein derartiges System bietet das Unternehmen Biotronik aus Berlin an. Der Herzschrittmacher überträgt die Messdaten an ein Heimgerät, das per Mobilfunk mit einem zentralen Rechenzentrum kommuniziert. Die Daten werden alle 24 Stunden übermittelt und der behandelnde Arzt wird per E-Mail, SMS oder Fax mit klinisch relevanten Informationen versorgt.

Das Nicht-Aufgezeichnete könnte verschwinden

Es fällt nicht schwer, diese Entwicklungen weiter zu denken und zu Zukunftsszenarien zu gelangen, in der die wahnhafte Vorstellung des Chips im Kopf zur Realität geworden ist. Diese Szenarien können hoffnungsvoll sein, aber auch sehr schnell ziemlich düster werden.

Man stelle sich etwa vor, es gibt ein kleines Chip-Pflaster mit Antenne, das den Herzschlag permanent an eine Notfall-Zentrale überträgt. Kommt es zu einem Herzinfarkt, wird er von einem lernenden Algorithmus bemerkt und automatisch ein Krankenwagen zu den GPS-Daten geschickt. Eine gute Sache, die Menschenleben rettet.

Aber anstatt des Pflasters könnte es sich auch um ein Gerät handeln, das man sich implantieren lassen muss, weil es andernfalls keine Krankenversicherung mehr gibt. Oder, ganz düster: Der Sensor ist nur ein kleiner medizinischer Teil eines staatlich implantierten Bürger-Chips, der noch viel mehr kann, beispielsweise das zentrale Nervensystem für eine Weile lahm legen.

So ein digitaler Totalitarismus, in dem die direkte Überwachung und Kontrolle der Einzelnen wie der Vielen möglich ist, muss nicht eintreten, aber er könnte. Die fortschreitende Verbindung von Sensoren, Rechenkapazität und Datenfluss wird eine ungeheure Messung und Manipulation alles Menschlichen ermöglichen. Darüber hinaus wäre es technisch ohne Probleme zu bewerkstelligen, überhaupt alle sozialen Handlungen aufzuzeichnen und zu speichern. Das flüchtige Wort, der forschende Blick, alles sozial Nicht-Aufgezeichnete, könnte verschwinden. Kameras und Mikrofone befinden sich nicht nur in jedem Smartphone, sie sind auch in die Wohnzimmer eingerückt, jedoch nicht, wie es sich noch George Orwell in seinem Roman 1984 vorgestellt hat, in der Form von Überwachungsapparaten, in deren Blickfeld man sich gezwungenermaßen begeben muss, sondern in Form von Spielekonsolen, für die man gerne Geld ausgibt.

In den Vorstellungen mancher Psychotiker sind überwachende und kontrollierende Chips bereits in Köpfe eingebaut. Victor Tausk konnte im Jahr 1919 noch feststellen, dass alle menschlichen Erfindungen nicht ausreichen, um die Funktionsweisen dieser paranoischen Maschinen zu erklären. Im Jahr 2016 müssen wir befürchten, dass die menschlichen Erfindungen eines Tages ausreichen könnten.

Literatur

i Deleuze, Gilles und Guattari, Felix 1974. Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie (I). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
ii De La Mettrie, Julien Offray (1747) 2009. Die Maschine Mensch. Hamburg: Meiner.
iii McLuhan, Marshall (1964) 1994. Die magischen Kanäle. Basel: Verlag der Kunst Dresden.