Zitate

Immer noch

Sie stelzen noch immer so steif herum,

So kerzengrade geschniegelt,

Als hätten sie verschluckt den Stock

Womit man sie einst geprügelt.

Heinrich Heine – Deutschland. Ein Wintermährchen. 1844

Kali-Yuga

[…] Zeitalter der Dunkelheit, Kali-Yuga, [….]; das Schlimmste von allem; das Zeitalter, in dem Besitz einem Menschen seinen Rang verleiht, in dem Reichtum mit Tugend gleichgesetzt wird, in dem Leidenschaft das einzige Band zwischen Männern und Frauen wird, in dem Falschheit Erfolg bringt, begann am Freitag, den 18. Februar 3102 v. Chr., und wird bloße 432 000 Jahre dauern!

Salman Rushdie, Mitternachtskinder

Lange denken im Dialog

„When we are capable of self-awareness, it’s usually for a very brief period of time: the ‚window of consciousness‘, during which we hold a thought or work out a problem, tends to be open on average for roughly seven seconds. What neuroscientists (and it mus be said, most contemporary philosophers) almost never notice, however, is that the great exception to this is when we are talking to someone else. In conversation, we can hold thoughts and reflect on problems sometimes for hours on end. […] Human thought is inherently dialogic.“

David Graeber and David Wengrow, The Dawn of Everything.

Ungleichheit

Die große politische Frage und die große kulturelle Frage der modernen Welt ist, wie dieses theoretische Loblied auf die Gleichheit mit der andauernden und zunehmend schärferen Polarisierung der realen Lebenschancen und mit der Befriedigung von Bedürfnissen in Einklang zu bringen ist, die der Kapitalismus geschaffen hat.

Immanuel Wallerstein, Der Siegeszug des Liberalismus (1789-1914). Das moderne Weltsystem IV.

Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung hat man die Bevölkerung acht sozialen Lagen zugeordnet. Die oberste wird aber nicht etwa Reichtum, sondern „Wohlhabenheit“ genannt. Was ist denn das bitte? Ausgerechnet im neuen Armuts- und Reichtumsbericht benennt man Reichtum auf einmal nicht mehr als solchen?

Interview mit Christoph Butterwegge zum aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht.

Staatsliebe

Jede der drei Ideologien hatte natürlich eine andere Rechtfertigung für ihren Etatismus, der ihr etwas peinlich war. Für die Sozialisten setzte der Staat den Willen der Allgemeinheit durch. Für die Konservativen schützte der Staat traditionelle Rechte vor dem Willen der Allgemeinheit. Liberalen stellte der Staat die Bedingungen her, unter denen individuelle Rechte zur Geltung kommen könnten. Doch in jedem Fall ging es letztendlich darum, den Staat gegenüber der Gesellschaft zu stärken, obwohl vorgeblich genau das Gegenteil gefordert wurde.

Immanuel Wallerstein, Der Siegeszug des Liberalismus (1789-1914). Das moderne Weltsystem IV.

Familie

…während die blinde alte Dame die überlieferten Familiengeschichten erzählte, finstere Begebenheiten, in denen es um Scheidung ging, um Konkurse, Dürrezeiten, Freundestäuschungen, Kindersterblichkeit, Brustkrankheiten, in der Blüte ihres Lebens dahingeraffte Männer, fehlgeschlagene Hoffnungen, verlorene Schönheit, unanständig dick gewordene Frauen, Schmuggelgeschäfte, opiumrauchende Dichter, schmachtende Jungfrauen, Verfluchungen, Typhus, Banditen, Homosexualität, Sterilität, Frigidität, Vergewaltigung, die hohen Lebensmittelpreise, Glücksspieler, Trunkenbolde, um Mörder, um Selbstmorde und um Gott.

Salman Rushdie, Scham und Schande