Geschichte

Erfindungen und Grausamkeit

Wer „Geschichte“ sagt, kann Ereignisse der Vergangenheit, die menschliche Rekonstruktion der Vergangenheit oder vollkommen erfundene Ereignisse meinen. Diese Bandbreite an Bedeutungen enthält bereits alle Probleme der Geschichtsschreibung, die im europäischen Raum mit Erzählern wie Herodot und Thuykidides beginnt. Auch für die gewissenhafteste Form von Geschichtsschreibung gilt, dass es sich um ein sprachlich-narratives Konstrukt handelt, das innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes produziert wurde, der von Vorurteilen und Interessen geprägt ist. Besonders deutlich wird dies bei den großen nationalen Erzählungen, in denen sich üblicherweise Geschichten des Triumphs und des erlittenen Unrechts abwechseln. Die politische Nutzung von Geschichte ist immer Teil einer Interaktionsstrategie in der Gegenwart.

Für Gilles Deleuze und Felix Guattari sind zwei Windungen der menschlichen Innovationsspirale von besonderer Bedeutung. Die erste ist die Entstehung von Staaten, die zuerst im „fruchtbaren Halbmond“ vor etwa 10.000 Jahren stattfand. Diese Entwicklung hat sich zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten der Erde wiederholt und umschließt Neuerungen wie Ackerbau, Urbanisierung und Schrift. Hier sehen Deleuze und Guattari den Übergang vom „Regime der Grausamkeit“ zum „Regime des Terrors“. Die neue Gesellschaftsform entstand innerhalb von grafisch und auditiv orientierten Gemeinschaften, in denen Gruppenzugehörigkeit durch Körpermanipulationen aller Art markiert wurde. Geschichte wurde über Bilder und Erzählungen tradiert. Interaktion war vor allem direkt und verwandtschaftlich. Dies änderte sich mit dem Aufkommen urbaner Staaten, die Deleuze und Guattari als schriftbasierte „Deterritorialisierungsmaschinen“ begreifen. Die zweite entscheidende Windung der Innovationsspirale sehen sie in Entwicklungen wie Kolonialisierung, Aufklärung und industrieller Revolution. Mit der Entstehung des Kapitalismus ging das „Regime des Terrors“ in das axiomatische „Regime des Zynismus“ über, in dem Quantifizierung und Transformation vorherrschen. Damit endet diese poststrukturalistische und dennoch stark an Hegel und Hesiod erinnernde Zeitalterlehre.

Wer durch Aufmerksamkeit und Sympathie ein differenziertes Geschichtsverständnis jenseits der sieghaften Erzählungen von Eroberungen und Errungenschaften entwickelt, erkennt, dass die Geschichte der Menschheit zuerst voller Grausamkeit ist. Dass Zwischenmenschlichkeit vor allem Machtausübung bedeutet und sich die skrupellosesten Taktiker durchsetzen, scheint der Lauf der Welt zu sein. Dass die Vergangenheit grausam und furchtbar war, fasst Richard Rorty im Ausdruck „die Schlachtbänke der Geschichte“ treffend zusammen. Diese Perspektive kann kaum trösten, aber sie kann lehren, gesellschaftliche und individuelle Grausamkeit zu erkennen und in der Gegenwart solidarisch zu handeln.

Literatur

Anderson, Benedict 1983. Imagined Communities. New York: Verso.

Bakunin, Michail (1871) 2005. Gott und der Staat. Berlin: Karin Kramer Verlag.

De Beauvoir, Simone (1949) 2000. Das andere Geschlecht. Reinbek: Rowohlt.

Herodot. Bücher der Geschichte I-IX. Stuttgart: Reclam.

Hesiod. Kosmogonie. Stuttgart: Reclam.

Said, Edward 1979. Orientalismus. Berlin: Fischer.

Solschenizyn, Alexander (1918-1956) 1973. Der Archipel Gulag. Bern: Scherz.

Thuykidides. Der Peloponnesische Krieg. Stuttgart: Reclam.

Texte