Technologie und Information
Der eigenen Epoche einen Namen geben zu wollen, ist immer problematisch und in der Rückschau meistens lächerlich. Diese Aussage gilt heute mehr als jemals zuvor, denn die Gegenwart liegt im engeren Teil einer sich ruckartig zuspitzenden Innovationsspirale, deren Zukunft immer ungewisser wird.
Am Beginn dieser Entwicklung stehen Sprache, einfache Werkzeuge und der Umgang mit dem Feuer. Die folgenden entscheidenden Wendungen enthalten Stationen wie Tierzucht, Ackerbau, Urbanisierung, Schrift und Mechanik. Der Stellenwert und die Reihenfolge derartiger Innovationen wird kontrovers diskutiert. Unumstritten ist hingegen, dass die Geschwindigkeit gesellschaftlicher Neuerungen in den letzten drei Jahrhunderten eine bisher ungekannte Beschleunigung erfährt. Durch Kolonialisierung, Aufklärung und industrielle Revolution wird die Innovation zur Regel und zur Quelle des bis heute ungebrochenen Fortschrittsglaubens. Viele Menschen gehen selbstverständlich davon aus, dass die folgende Generation in einer Welt voller neuer Dinge aufwachsen wird.
Die Grausamkeiten der Ideologen und der Technokraten in den letzten einhundert Jahren erschüttern diese Überzeugung nur teilweise. Zu atemberaubend ist der Umgang mit Elektrizität und die siliziumbasierte Massenproduktion von Information durch Digitalisierung. Es entstehen immer komplexere Maschinen, deren vollständige Funktionsweise längst keinem einzelnen Menschen mehr bekannt ist. Marshall McLuhan stellt fest, dass sich diese Informationsrevolution zuerst unbewusst auswirkt, da alle Menschen viel mehr erleben, als sie verstehen.
Wohin sich die Innovationsspirale bewegt, kann immer weniger abgeschätzt werden. Die Informationsrevolution erhöht die Schlagzahl technologischer Neuerungen so stark, dass zehn Jahre alte Prognosen hoffnungslos überholt erscheinen. Gleichzeitig wächst die Zahl der Möglichkeiten, deren Eintritt den plötzlichen Abbruch der Spirale durch nukleare oder biochemische Vernichtung bedeuten kann.
Ein Blick in die nähere Zukunft
Zukunftsprognosen haben derzeit immer einen apokalyptischen Beigeschmack, der vielleicht nicht unberechtigt ist, denn wir leben in bewegten Zeiten voll unerhörter Geschehnisse. Andererseits könnte es auch an der Unfähigkeit liegen, sich eine Alternative zum globalen Kapitalismus vorzustellen, die nichts mit Meteoriteneinschlägen, nuklearen Sprengköpfen, Klima-Schock oder Superviren zu tun hat.
Aber was, wenn der Weltuntergang ausfällt, oder die Auswirkungen vieler Mini-Apokalypsen letztendlich nur zur “Belebung der Konjunktur” beitragen? Vermutlich erwartet uns die vollendete Biopolitik durch Digitalisierung. Die Verbindung von Sensoren, Rechenkapazität und Datenfluss wird eine ungeheure Messung und Manipulation des Sozialen ermöglichen.
In nicht allzu ferner Zeit wird der Großteil aller Handlungen aufgenommen und gespeichert werden. Damit ist nicht nur gemeint, dass fast alles gefilmt und abgehört werden wird. Das wird niemanden wirklich überraschen, da diese Überwachung längst aus Science-Fiction, Thriller und Krimi vertraut ist. Die Messung wird jedoch noch viel weiter gehen. Man stelle sich vor, ein kleines Chip-Pflaster überträgt den Herzschlag permanent an eine Notfall-Zentrale. Kommt es zu einem Herzanfall, wird er von einem Deep-Learning-Algorithmus bemerkt und automatisch ein Krankenwagen zu den GPS-Daten geschickt. Natürlich könnte es sich anstatt des Pflasters auch um ein Gerät handeln, den man sich implantieren lassen muss, weil es sonst keine Krankenversicherung gibt, was illegal ist und zu Haftstrafen führen kann. Oder der Sensor ist nur ein kleiner medizinischer Teil eines staatlich implantierten Chips, der noch viel mehr kann, beispielsweise das zentrale Nervensystem für eine Weile lahm legen oder für gute Stimmung im Gehirn sorgen. Solche Sachen.
Die Teilnahme an diesem gigantisch falschen Falschen wird erwünscht sein, denn der Ausschluss von der totalen biologischen Überwachung wird bedeuten, zu den abgekoppelten Nicht-Menschen zu gehören, für die sich der Staat nur in Form von drohnenbasierter Crowd-Control interessiert. Was vor uns liegt, ist wahrscheinlich also, was hinter uns liegt: Eine Serie himmelschreiender Ungerechtigkeiten, deren Fortschritt höchstens an der Menge der betroffenen Menschen gemessen werden kann.
Literatur
Castells, Manuel (1996) 2001. Das Informationszeitalter. Teil 1: Der Auftstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen: Leske und Budrich.
McLuhan, Marshall (1964) 1994. Die magischen Kanäle. Basel: Verlag der Kunst Dresden.
Meyrowitz, Joshua 1987. Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Weinheim: Beltz.
Texte
- Initiation
- Geschwindigkeit
- Leere
- Rhythmus
- Wunschmaschinen
- Todestag
- Infrastruktur
- Kritik
- Verführung
- Essenzen
- Unsicherheit
- Virus
- Transgression
- Cyborgs
- Normalität
- Einschreibung
- Nervenfeuer
- Blick
- Kosmologie
- Affen
- Erleuchtung
- Geschichte
- Elastizität
- Rassenlehre
- Geld
- Interaktion
- Zweifel
- Machtdimension
- Kopfjagd
- Unwägbarkeit
- Flackern
- Reizbarkeit
- Netzwerke
- Innovationsspirale
- Verausgabung