Interaktion

Aufmerksamkeit und Psyche

Niemand weiß genau, was in den Anderen vorgeht. Daher verwenden Menschen viel Aufmerksamkeit darauf, Theorien über ihre Interaktionspartner zu entwerfen und immer wieder zu überprüfen. Diesen alltäglichen Arbeitshypothesen liegt die Annahme zugrunde, dass im Gegenüber eine Art von Psyche wohnt, die dem eigenen Erleben vergleichbar ist. Georg Franck schreibt, dass wir mit Hilfe dieser intuitiven Spekulationen beständig versuchen, aus dem Verhalten der Mitmenschen etwas über „unser Bild im Kopf der Anderen“ abzuleiten.

Erving Goffman zeichnet menschliche Interaktion als geheimnisvolles Zwischenreich, in dem sich Person und Gesellschaft gegenseitig reproduzieren. Er bemerkt, dass dieses komplizierte soziale Spiel von den teilnehmenden Akteuren größtenteils unbewusst betrieben wird und nie vollständig beschrieben werden kann. Geruch, Gestik, Haltung, Mimik, Sprache, Schmuck, Geld und Macht sind nur einige der zahlreichen Ebenen menschlicher Interaktion. Sie kann durch eine rätselhafte Mischung aus erlernten Erwartungen und vorläufigen Annahmen eine nicht zu vermessende Bandbreite sozialer Rahmungen formen.

Eine Besonderheit der menschlichen Interaktion scheinen die vielen Ebenen des „Als ob“ zu sein, die dabei zum Tragen kommen. Tiere können sich tarnen und so tun, als wären sie nicht da. Bei den Menschen kann es vorkommen, das jemand so tut, als würde er so tun – beispielsweise wenn die Tarnung Teil einer Jagdszene im Theater ist.

Die detaillierten Analysen Goffmans konzentrieren sich auf das Verhalten gleichzeitig vereinter Menschen, gelten aber auch für vermittelte Interaktionen wie etwa Schfriftverkehr und Videoübertragung. Die mediale Übermittlung reduziert die möglichen Interaktionsebenen und potenziert gleichzeitig die Zahl der möglichen Teilnehmer an anderen Orten und in zukünftigen Zeiten. Dadurch werden sowohl kalkulierte als auch völlig unvorhergesehene Formen von Prominenz möglich. Personalisierte Interaktion kann aber nicht nur durch technologische Artefakte entstehen, sondern sich auch auf diese selbst beziehen. Seit Beginn der menschlichen Innovationsspirale werden Dinge gefertigt, denen psychische Eigenschaften wie Bedürfnisse und Launen zugeschrieben werden.

Die ethnographischen Beschreibungen von McCarthy-Brown und Favret-Saada beleuchten die von Ängsten und Hoffnungen getriebenen Annahmen, die im Umgang mit imaginierten Interaktionspartnern wie Göttern und Hexen gemacht werden. Diese Figuren werden als eigenständige Akteure wahrgenommen, zu denen die Menschen vielfältige Austauschbeziehungen unterhalten können. Der Ablauf des Austauschs mit Göttern und Geistern wird in der antiken Formel „do ut des“ („Ich gebe, damit du geben wirst“) in präziser Kürze zusammengefasst. Mit Hexen und Zauberern werden wiederum Gestalten geschaffen, die für Unglücksfälle verantwortlich und unschädlich gemacht werden können.

Tiere sind andere nicht-menschliche Interaktionspartner, denen eine Art von Psyche zugeschrieben wird. Welchen Stellenwert sie genießt, hängt ganz von der sozialen Situation ab. In der Massentierhaltung und im Schlachthof findet das tierische Bewusstsein keine Beachtung. Doch weder Aufmerksamkeit noch Sympathie verteilen sich entlang strenger Artengrenzen. Man kann einen Schäferhund als vollwertige Person betrachten und dennoch Millionen von Mitmenschen für Parasiten halten.

Spekulative Prozesse sind die Grundlagen der menschlichen Interaktion mit gesellschaftlichen, technologischen, tierischen, pflanzlichen oder imaginierten Partnern. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, wie viel Aufmerksamkeit dem Theoretisieren über einen Interaktionspartner eingeräumt wird. Wenn gesellschaftliche Verallgemeinerungen vorherrschen und die andere Psyche kaum beachtet wird, entsteht ein rein machtorientierte Normalität, die alle möglichen Formen von Grausamkeit erlaubt.

Literatur

Favret-Saada, Jeanne 1979. Die Wörter, der Zauber, der Tod. Der Hexenglaube im Hainland von Westfrankreich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Franck, Georg 1998. Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München: Carl Hanser Verlag.

Goffman, Erving (1959) 2007. Wir alle spielen Theater. Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper.

McCarthy-Brown, Karen 2001. Mama Lola. A Vodou Priestess in Brooklyn. Los Angeles: University of California Press.

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