Netzwerke

Knoten und Kanten

Netzwerktheorien ermöglichen es, komplizierte Verbindungsgeflechte zu beschreiben und zu analysieren. Sie basieren auf der Graphentheorie, die im 18.Jahrhundert von Leonhard Euler entwickelt wird. Die Elemente eines Netzwerkes sind einzelne Knoten und Kanten, welche die Verbindungen zwischen den Knoten repräsentieren. Sie können grafisch oder in Form von Matrizen dargestellt werden, was eine ausführliche mathematische Bearbeitung möglich macht. Die große Herausforderung für die Netzwerktheorie ist die Zeit. Ein Netzwerk ist zuerst eine Momentaufnahme von Verhältnissen, ihre Entwicklung muss nachträglich eingefügt werden.

Netzwerktheoretische Beschreibungsmethoden werden ab Ende der 1950er Jahre auch für die Sozialwissenschaften nutzbar gemacht. Menschen, Organisationen oder Länder werden als Knoten und ihre Austauschbeziehungen als Kanten dargestellt. Zusätzlich wird es möglich, die informellen Netzwerke hinter den offiziellen Institutionen zu beleuchten. Diesen Vorteil macht sich vor allem die „Manchester Schule“ um Max Gluckman zunutze, um bestimmte soziale Ereignisse in „Extended Case Studies“ zu untersuchen und ältere strukturfunktionalistische Beschreibungen zu erweitern. Jeremy Boissevain schafft eine netzwerktheoretische Beschreibung von Phänomenen wie Gruppenbildung, sozialem Maklertum und Vetternwirtschaft, in der die offiziell registrierten Institutionen einer Gesellschaft nur noch als dünne Fassade weitgehend informeller Interaktionen vorkommen.

Die zahlreichen soziologischen Ansätze beschreiben eine ganze Reihe von bemerkenswerten Eigenschaften sozialer Netzwerke, die Arbeiten werden jedoch nicht konsequent zu einem eigenständigen Forschungszweig zusammengeführt. Stanley Milgram wird mit der These berühmt, dass die Distanz zwischen zwei beliebigen Amerikanern nicht mehr als sechs Bekanntschaften beträgt. Mark Granovetter kann zeigen, dass Freundschaftsnetzwerke eng verknüpfte Anhäufungen bilden, weswegen die wenigen Verbindungen nach außen von umso größerer Bedeutung sind. Wie Boissevain behandelt er die Rolle der sozialen Makler als Akteure, die in eine Vielzahl unterschiedlicher Freundschaftsnetzwerke eingebunden sind und die wichtigen Verbindungen zwischen den Anhäufungen kontrollieren.

Ab Mitte der 1990er Jahre setzt eine „Renaissance“ der Netzwerktheorien ein, die hauptsächlich von Mathematikern und Physikern wie Albert-László Barabási angestoßen wird. Sie ist von der optimistischen Hoffnung geprägt, ein mathematisches Werkzeug an der Hand zu haben, mit dem alle möglichen organisch-sozialen Phänomene erklärt werden können. Angesichts des komplexen Zusammenspiels digitaler und analoger Beziehungen, welches beispielsweise im Gehirn oder im Genom beobachtet werden kann, erweist sich dieses Unterfangen jedoch als unerwartet schwierig. Dennoch liefern Netzwerktheorien leistungsfähige Beschreibungsmodelle der Welt, die Einsichten in die Eigenschaften und die Dynamik unterschiedlicher Netzwerktypen ermöglichen.

Literatur

Barabási, Albert-László 2002. Linked. How Everything Is Connected to Everything Else and What It Means. London: Penguin Books.

Boissevain, Jeremy 1974. Friends of Friends. Networks, Manipulators and Coalitions. Oxford: Basil Blackwell.

Granovetter, Mark 1973. The Strength of Weak Ties. American Journal of Sociology. 78, 6. 1360-1380

Migram, Stanley 1967. The Small-World Problem. Psychology Today. I, I. 60-67.

Texte