Rassenlehre

Offensichtlichkeit und Vorurteil

Wer viel und gern von Rassen spricht, verlässt sich auf eine Sortierung nach offensichtlichen körperlichen Unterschieden, die sich bei näherer Diskussion immer als grob und oberflächlich erweist. Die Rede von menschlichen Rassen schwankt je nach sozialer Situation zwischen Konzepten wie Völkern, Nationen, Religionen, Mentalitäten, Genen oder Kontinenten hin und her, immer auf eine Verbindung mit sichtbaren Zeichen wie Hautfarbe, Nasenform und Haarwuchs aus.

Bereits im frühen Kindesalter erlernen die Menschen, körperliche Merkmale mit unsichtbaren Massen und fest umrissenen Mengen zu verbinden. Tilmann Moser beschreibt beispielhaft die kleine Pseudovölkerkunde seiner Nachkriegskindheit, in der alle möglichen Gruppen mit zwei bis drei Etiketten versehen und verachtet werden. Die so entstehenden Vorurteile können von der Realität nur selten widerlegt werden, denn sie werden nur dann bewusst vertreten, wenn sie sich leicht bestätigen lassen. Da sich rassistische Haltungen immer am Offensichtlichen orientieren und an eine vermeintlich objektive Natur der Dinge appellieren, können sie einen starken rhetorischen Rückenwind erzeugen. Die Gegenposition muss immer etwas weiter ausholen, differenzieren und die wortlosen Überzeugungen entlarven, die mit einem unkritischen Verständnis von Normalität einhergehen.

So gibt es beispielsweise das Vorurteil, dass Menschen mit dunklerer Hautfarbe und afrikanischen Vorfahren schneller laufen können als andere Menschen. Wer diese Haltung vertreten möchte, muss nur auf die aktuelle Top Ten der schnellsten 100-Meter-Läufer der Welt verweisen. Sind sie nicht alle schwarz? Die Widerlegung dieses naiven Biologismus braucht Geduld und kann mit einem Hinweis auf die eigentlich lächerlich geringen Unterschiede beginnen, die im Rahmen von internationalen Sportwettbewerben gemessen werden. Ein gesunder und ausreichend trainierter Mensch kann 100 Meter in etwa 10 Sekunden überwinden. Rassenunterschiede im Bereich von Hundertstelsekunden zu suchen, würde einem Hundezüchter nicht einfallen. Wer bei einem Profiturnier einen Weltrekord aufstellt, wird vor allem dadurch entschieden, wer Zugang zu einer hoch spezialisierten, technologisch-pharmakologischen Infrastruktur bekommt. Wer versucht, diesen Zugang zu erlangen, wird unter anderem davon bestimmt, wie wahrscheinlich eine Läuferkarriere als soziale Aufstiegsmöglichkeit erscheint. Daraus können bisher weitgehend unverstandene epigenetische Verankerungen entstehen, die viel mit historischen Entwicklungen und wenig mit Melaninkonzentrationen zu tun haben.

1936 Olympic 200m dash Bild: Ohio State University

Diese kurze und abstrakte Argumentation eignet sich nicht, um liebgewonnene Vorurteile zu widerlegen. Leider kann auch eine Vielzahl von konkreten Beispielen, kritischen Ausführungen und einleuchtenden Vergleichen hier selten etwas ausrichten. Die sich an körperlichen Unterschieden orientierenden Alltagsüberzeugungen können sich nicht nur auf das Offensichtliche, sondern auch auf wissenschaftliche Traditionen berufen, die mit einer Fülle an Gegensatzpaaren wie primitiv und zivilisiert, körperlich und geistig, emotional und rational operieren. Der akademische Rassismus stammt aus dem Spannungsfeld von Aufklärung und Kolonialisierung. Die Ideale des universalen Humanismus entstehen zu einer Zeit der gnadenlosen Ausbeutung, die von den radikalen Aufklärern nur problematisiert wird, wenn Menschen ähnlicher Hautfarbe betroffen sind. Allen anderen gegenüber schwanken ihre Gefühle zwischen Verachtung, Bewunderung und Mitleid. In jedem Fall legen sie das akademische Fundament für Sortierungen der Menschheit, die für alle möglichen Formen der Unterdrückung verwendet werden.

Eurozentrismus und Exotismus sind Teile einer Kolonialisierung des Denkens, die noch lange nicht zu Ende ist. Die erfolgreiche Verwandlung mathematischer Modelle in anwendbare Technologie gilt als offensichtlicher und dennoch selten ausgesprochener Beweis der Überlegenheit des „Abendlandes“. Das Ergebnis sind so unterschiedliche Phänomene wie der globale Traum von der „Hochzeit in Weiß“ oder ein chinesischer Rassismus, der mit Farbabstufungen von bisher ungekannter Feinheit arbeitet. Zur gleichen Zeit werden weltweit die Gefängnisse vor allem mit Menschen dunkler Hautfarbe gefüllt. Die Hellhäutigen wiederum versuchen sich entlang eines Ideals natürlicher Bräune zu unterscheiden, die von einem asketisch-hedonistischen Lebensstil zeugt.

Literatur

Moser, Tilmann 1993. Vom ideologischen Giftmüll. Der Spiegel 44/1993.

Tobing Rony, Fatimah 1996. The Third Eye. Race, Cinema, And Ethnographic Spectacle. Durham: Duke University Press.

Texte