Mehr und Weniger
Lust und Schmerz gehören vermutlich zu den einfachsten Gefühlen, die von Tierarten mit einem Nervenkostüm empfunden werden können. Auch die menschliche Gefühlswelt speist sich aus diesen voneinander abhängigen emotionalen Grundtönen. Viele Menschen sind jedoch davon überzeugt, dass ihre Gefühle tiefer und komplizierter als die von anderen Tieren sind. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird sich niemals ermitteln lassen, da sich nicht einmal genau sagen lässt, was in den anderen Menschen vorgeht.
Mehr von etwas zu wollen, bedeutet gleichzeitig immer auch, weniger von etwas anderem zu wollen und umgekehrt. Diese ständige, nie vollständig aufgehobene Spannung zwischen Überfluss und Mangel ist möglicherweise einer der Anstöße, die das Bewusstsein erst erzeugen. Die Psyche bedient sich einer ganzen Reihe solcher nie vollständig aufgehender Gegensätze, um das Gefühl eines kohärenten Ichs zu produzieren.
Ein Bewusstseinzustand ist ein unteilbares Zusammenspiel, eine Melange aus Erfahrung und Wunsch, die immer eine mehr oder weniger intensive emotionale Dimension hat. Sie färbt das gesamte Erleben in kräftigen oder milden Tönen und formt zentrale Überzeugungen wirksamer als jede Argumentation. Die schnellen Urteile des Alltags zeugen von unbewussten Wertungen, die ohne sorgfältiges Abwägen auskommen.
Die sprachlichen Bezeichnungen von Gefühlszuständen sind von historischen und geographischen Zufällen abhängig. Wie genau sich das Inventar der gesellschaftlich verfügbaren Gefühlsbezeichnungen und die Erlebniswelt der Menschen gegenseitig produzieren, ist unklar. Emotionen entstehen in einem rätselhaften Bereich zwischen Gesellschaft und Individuum. Eine soziale Situation ist immer an ein bestimmtes Spektrum von angemessenen Gefühlslagen gekoppelt. Auf einer Hochzeit werden andere Gefühlsäußerungen erwartet als auf einer Beerdigung. Auch die Intensität von Gefühlen wird je nach Situation anders beurteilt. Wer „gefühllos“ handelt, kann für kühle Vernunft gelobt oder für rücksichtslose Grausamkeit getadelt werden. Unausgesprochene und dennoch selbstverständliche Regeln dieser Art formen das Erleben in zumeist unbewusster Weise, sie sind aber gleichzeitig ein zentraler Gegenstand der alltäglichen Selbstbefragung.
Literatur
James, William (1902) 1997. Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Frankfurt a. M.: Insel Verlag.
Smith Bowen, Elisabeth (1954) 1964. Return to Laughter. An Anthropological Novel. New York: Anchor Books.
Texte
- Initiation
- Geschwindigkeit
- Leere
- Rhythmus
- Wunschmaschinen
- Todestag
- Infrastruktur
- Kritik
- Verführung
- Essenzen
- Unsicherheit
- Virus
- Transgression
- Cyborgs
- Normalität
- Einschreibung
- Nervenfeuer
- Blick
- Kosmologie
- Affen
- Erleuchtung
- Geschichte
- Elastizität
- Rassenlehre
- Geld
- Interaktion
- Zweifel
- Machtdimension
- Kopfjagd
- Unwägbarkeit
- Flackern
- Reizbarkeit
- Netzwerke
- Innovationsspirale
- Verausgabung