Transgression

Regel und Bruch

Ein spanischer Pensionär versucht, seinen Sonnenschirm am Strand zu befestigen. Der Boden ist zu hart und der Schirm fällt immer wieder um. Der ältere Herr wischt sich über die Stirn und grummelt: „Ich scheiße auf die Jungfrau und ihren Hurensohn!“.

Warum fluchen viele Menschen so gerne? Blasphemie ist eine weit verbreitete Übertretung der zentralen Regeln einer religiösen Lehre durch ihre eigenen Anhänger. Ähnliche Phänomene lassen sich in vielerlei Formen religiöser Praxis beobachten. Die Ritualforschung beschäftigt sich mit dem scheinbaren Widerspruch, dass Rituale zur Herstellung gesellschaftlicher Ordnung beitragen und gleichzeitig einen Bruch der Regeln des alltäglichen Lebens beinhalten. Dies wird besonders bei Initiationsritualen deutlich, die eine außergewöhnliche Punktierung des Alltags darstellen und in deren Verlauf die Regeln der üblichen Interaktion häufig auf den Kopf gestellt werden. Soziale Rahmungen definieren und produzieren ihre Übertretung gleichermaßen.

Slavoj Žižek erzählt gerne eine Anekdote, bei der es um eine Rede Stalins vor Parteigenossen geht. Nach dem Ende der Rede steht einer der Zuhörer auf und kritisiert Stalin. Unverzüglich springt ein weiterer Zuhörer auf und rügt den Kritiker: „Niemand widerspricht dem Genossen Stalin!“. Beide werden bestraft. Die Offenbarung unausgesprochener Regeln kann genauso schwer wiegen wie ihr Bruch. In totalitären Staaten wird besonders deutlich, dass das gesamte öffentliche Leben den Stempel eines gewaltigen „Als ob“ trägt, das nicht offiziell thematisiert und nur im vertrauten Umgang ignoriert werden darf.

Das rätselhafte Zusammenspiel von Regel und Bruch kann in den unterschiedlichsten Rahmungen beobachtet werden. Was geschieht beispielsweise, wenn der gefeierte Spitzenstürmer eines Fußballclubs einen Elfmeter durch eine Schwalbe provoziert? Die Mitglieder und Anhänger der gegnerischen Mannschaft halten ihn für einen Betrüger, der eine niederträchtige Tat begangen hat. Seine eigene Seite hält ihn für ein Schlitzohr, der die Spielregeln zu seinen Gunsten zu nutzen weiß. Doch seine Offiziellen dürfen dies vor den Kameras nicht aussprechen. Eine der vielen Rahmungen dieses Spiels ist, dass sich zwei Seiten auf fixierte Regeln einigen und diese nicht offen missachten.

Innerhalb der Mannschaft mag man anders über die Schwalbe reden, doch auch hier gibt es eine eigene Mengenlehre. Unter der Dusche dürfen homoerotische Anspielungen gemacht werden, doch es steht immer außer Frage, dass der vorherrschende Heterosexismus ein offenes Handeln verbietet. Homophobe Männerbünde dieser Art prägen die allermeisten öffentlichen Organisationen. Dass der Regelbruch angedeutet, aber nicht begangen werden darf, und doch ständig begangen wird, ist eine weitere Variante des vielschichtigen „Als Ob“ menschlicher Verflechtungen und Abhängigkeiten.

Als letztes Beispiel sollen die iranischen Höflichkeitsformeln erwähnt werden. Dieses komplizierte Regelinventar verlangt unter anderem, dass ein Händler zu Beginn der Verkaufsverhandlungen die Ware zunächst freimütig als Geschenk darbietet. Dieses Angebot besitzt keine echte Gültigkeit und darf selbstverständlich nicht angenommen werden, obwohl oder gerade weil der Händler freundlich versichert, dass er Höflichkeitsfloskeln ablehnt und es ernst meint.

Die Frage nach dem „Als Ob“ nimmt einen großen Teil der alltäglichen Spekulation und Selbstbefragung ein. Die Menschen fragen sich unablässig, ob sie selbst und die Anderen es ehrlich meinen und von welchen Intentionen eigenes und fremdes Verhalten geleitet wird. Diese Forschung nach Wollen und Sollen, diese kreisende Suche nach Authentizität, folgt selbst wiederum weitgehend unbewussten sozialen Regeln, die immer neu ausgelegt und überschritten werden.

Literatur

Bateson, Gregory 1958. Naven. A Survey of the Problems Suggested by the Composite Picture of the Culture of a New Guinea Tribe Drawn from Three Points of View. Stanford: Stanford University Press.

Köpping, Klaus-Peter 2002. Shattering Frames. Transgressions and Transformations in Anthropological Discourse and Practice. Berlin: Reimer.

Nardone, Giorgio und Watzlawick, Paul 2005. Brief Strategic Therapy. Philosophy, Techniques and Research. Oxford: Jason Aronson.

Schieffelin, Edward 1996. On Failure and Performance: Throwing the Medium Out of Seance. In: The Performance of Healing. London: Routledge.

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