Unwägbarkeit

Ökonomie und Rationalität

Was ist der Unterschied zwischen einer Sportwette und einem Aktienkauf? In beiden Fällen wird mit Gewinnabsicht auf ein zukünftiges Ereignis spekuliert. Hier wie dort wird versucht, auf der Basis von in der Gegenwart verfügbaren Informationen eine möglichst genaue Zukunftsprognose zu kalkulieren. Sowohl Investoren als auch Spieler können sich komplizierter mathematischer Modelle bedienen, um das Risiko ihres Einsatzes einzugrenzen (to hedge). Dennoch wird die Sportwette dem Bereich des irrationalen Spielvergnügens zugeordnet, während der Aktienkauf in die Domäne der rationalen Gewinnmaximierung fällt.

Mareike de Goede folgt der Tradition Foucaults und zeigt, dass die Unterscheidung von Glückspiel und Spekulation ein zufälliges Produkt historischer Entwicklungen und keineswegs selbstverständlich ist. Sie entwirft eine Genealogie dieser Prozesse und greift Ereignisse heraus, in denen die Produktion der „natürlichen“ Ordnung ins Stocken gerät. Eines der deutlichsten Beispiele sind die Gerichtsverfahren in den USA im frühen 20. Jahrhundert, in denen um die Legitimität der „Bucketshops“ gestritten wird. In den 1920er Jahren wetten die ärmeren Schichten in diesen Läden auf die Preisentwicklung an der Börse. Die gesellschaftlich anerkannten Börsenhändler brandmarken diese Praxis als irrationales Glücksspiel, in dem keine tatsächlichen Werte bewegt würden. Die Verteidiger der Bucketshops verweisen darauf, dass dies ebenso für den größten Teil der Transaktionen an den Börsen von Chicago und New York gilt, wo eine Fülle von Zertifikaten gehandelt wird, die ausschließlich finanziell erfüllt werden. Es folgen jahrzehntelange juristische Streitigkeiten, in deren Verlauf Hürden für die Teilnahme am neu definierten „Finanzmarkt“ produziert werden.

De Goede kann mit ihrer historischen Analyse zeigen, wie die Börsenspekulation nach und nach als verantwortungsvolle ökonomische Praxis definiert und von der gefährlichen Wettleidenschaft getrennt wird. Wer vernünftig rechnet, kann dem Risiko unerschrocken begegnen. Der ideale Hedge-Fonds verspricht den totalen Schutz vor unerwarteten Ereignissen. Dass die schiere Unwägbarkeit der Möglichkeiten eine vollständige Berechnung unmöglich macht, wird nur zugegeben, wenn Katastrophen und Verluste bereits eingetreten sind.

Was bedeutet „rational“ genau? Im Alltagsverständnis gilt rationales Handeln als Anwendung von Vernunft, Kalkulation und Ökonomie. Seit der Aufklärung gilt Rationalität als Alleinstellungsmerkmal und Zierde der Menschheit. Dieser Optimismus fordert den Widerspruch der Romantik heraus, die in ihrer Konzentration auf intuitives Begreifen die Trennung der Domänen „Vernunft“ und „Gefühl“ erst mit prägt. Ihr übersteigerter Sinn für die „Feierlichkeit des Lebens“ ist eine Reaktion auf die naive Überzeugung, dass sich früher oder später alles messen lässt.

Dieser überzogene Empirismus ist sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Wirtschaftswissenschaften weit verbreitet. Wer ein gängiges Lehrbuch der Ökonomie aufschlägt, erfährt, dass der Gegenstand dieser Wissenschaft die „Wirtschaft“ ist. Damit wird ein Bereich festgelegt, der als unabhängig von anderen Domänen wie etwa „Religion“ oder „Politik“ verstanden wird. Dass diese weltfremde Kategorisierung ein generationenalter Zankapfel (Substantivisten vs. Formalisten) ist, wird nicht erwähnt. Anschließend folgt die Anrufung von Adam Smith als legendärem Ahnen. Seine Werke legitimieren das idealistische Modell eines abgeschlossenen Wirtschaftssystems voll zweckrationaler Agenten, deren Entscheidungen als Axiome modelliert und kalkuliert werden können. Spekulanten werden als Dienstleister verstanden, die Preisunterschiede ausgleichen und für den effizientesten Einsatz von Geld sorgen. Der „natürliche Preis“ gilt als universale Konstante, zu dem das vernünftige Handeln hin strebt. Diese Theorie beruht jedoch trotz gegenteiliger Versicherungen nicht auf beobachteten Ereignissen, sondern auf dem Glauben an den idealen Markt als ebenes Spielfeld, auf dem alle irgendwie gewinnen.

Kann Rationalität außerhalb der Trennung von Vernunft und Gefühl gedacht werden? Ein etymologischer Ansatz kann bei einer wie auch immer gearteten Verhältnismäßigkeit beginnen, die von einem Lebewesen beobachtet wird. Schon die Rationierung von Nahrung stellt einen Umgang mit Mengen dar. Bienen zeigen den Weg zu einem Blütenstandort durch den Schwänzeltanz an, der eine verhältnismäßige Repräsentation von Richtung und Distanz ist. Für Susanne Langer basieren diese Formen auf der Verwendung von Zeichen, während sie Rationalität als exklusiv menschlichen Prozess symbolischer Transformation begreift.

Ob dieser Umgang mit Symbolen als natürlich-universales oder als gesellschaftlich-historisches Phänomen verstanden werden sollte, ist Gegenstand erbitterter und unter seltsamen Vorzeichen geführter Scheindebatten, beispielsweise zwischen Gananath Obeyesekere und Marshall Sahlins. Obeyesekere pocht mit Kant auf die praktische Vernunft, die den Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten zugänglich ist. Mit diesem Konzept der Aufklärung versucht er unnötigerweise, seine berechtigte anti-koloniale Kritik an einem der wichtigsten Mythen der Aufklärung („Die Eingeborenen halten uns für Götter“) zu untermauern. Sahlins wiederum hält mit der Formel „different cultures; different rationalities“ dagegen und betont die historische Zufälligkeit menschlicher Regelinventare. Leider kommen seine breiten Interpretationen ohne sorgfältige Quellenkritik aus. Obeysekere will ein scharfer Kritiker sein und Sahlins ein guter Historiker – beide scheitern.

Literatur

De Goede, Marieke 2005. Virtue, Fortune and Faith. A Genealogy of Finance. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Langer, Susanne (1941) 1979. Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art. Harvard University Press.

Obeyesekere, Gananath (1992) 1997. The Apotheosis of Captain Cook. European Mythmaking in the Pacific. Princeton University Press.

Polanyi, Karl 1979. Ökonomie und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Sahlins, Marshall 1995. How „Natives“ Think. Chicago: University of Chicago Press.

Smith, Adam (1776) 1991. The Wealth of Nations. New York: Prometheus Books.

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