Verführung

Genuss und Schuld

Der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek vertritt die These, dass sich die Aufgabe der Psychotherapie in der Gegenwart grundsätzlich gewandelt hat. Sie wurde im 19. Jahrhundert in einem patriarchalisch-repressiven Umfeld erfunden und diente im besten Fall dazu, das negativ besetzte und verdrängte Begehren der Patienten umzudeuten und erträglich zu machen. In einer Gesellschaft, in deren öffentlichem „Als ob“ die Sexualität stets problematisch und mit Schuld verschlungen ist, lautete die Botschaft der Psychoanalyse, dass Sex natürlich und Genuss ok ist. Im 21. Jahrhundert hat sich die Lage grundlegend geändert. Die zentrale Botschaft der symbolischen Ordnung ist Žižek zufolge nicht mehr das „Gehorche!“ der vergangenen Jahrhunderte, sondern das konsumfordernde „Genieße!“ des globalen Kapitalismus. Heute wird wird in Werbung und Porno eine hyperreale Sexualität produziert, der sich niemand entziehen kann. Angesichts dieses Drucks fordert Žižek, dass die Therapeuten der Gegenwart den Menschen versichern sollten, dass Genuss zwar ok, aber keine Pflicht ist.

Genuss und Schuld sind nach wie vor verknüpft, jedoch unter geänderten Vorzeichen. Heute gibt es die Schuld des Nicht-Genießens, die Angst, etwas zu verpassen, und die Sorge, nicht genug aus diesem einzigartigen Leben zu machen. Dieser verordnete Hedonismus, der sich in Parolen wie „you only live once“ zeigt, kann für erhebliche psychische Spannung sorgen. Denn der alltägliche Konsum ist ebenfalls schuldbeladen – der industrialisierte Lebensstil basiert auf Ausbeutung aller Art und stellt aus sozialer wie ökologischer Perspektive eine unverantwortliche Ausschweifung dar. Um diese Schuldgefühle zu dämpfen, gibt es Bio-Siegel. Man bezahlt etwas mehr und kann dafür mit gutem Gewissen konjunkturfördernd genießen. Žižek führt eine ganze Reihe von Beispielen an, mit denen der ununterbrochene Genuss in Form von Warenkonsum ermöglicht werden soll: Entkoffeinierter Kaffee, alkoholfreies Bier, fettarme Milch und E-Zigaretten. In den Waren der Gegenwart werden Konsum und Abstinenz auf seltsame Weise verschmolzen. All dies scheint darauf ausgerichtet zu sein, den Umstand zu verschleiern, dass ständiger Konsum wenig bringt, da Genuss und Entbehrung einander bedingen.

Die Haare von Frau Ordebeheschdi

Als ich im Iran einen Sprachkurs besuchte, wurden mein einziger Mitstudent und ich für zwei Wochen von Frau Ordebeheschdi unterrichtet. Wie alle anderen Frauen an der Universität war sie stets in einen schwarzen Tschador gehüllt, den sie unaufhörlich um ihren runden Körper raffte. Zum Ende des Kurses hin lud sie uns zum Abschied zu sich nach Hause ein. Während in der Öffentlichkeit stets der verordnete Kleidungsstil gepflegt werden musste, war es üblich, dass sich die Frauen im häuslichen Umfeld um so aufwändiger schmückten. Voller Vorfreude erzählten wir uns immer wieder: „Am Freitag sehen wir Frau Ordebeheschdis Haare“. Nichts ist verführerischer als das Verdeckte.

Tschador oder Bikini: Beide Kleidungsstücke sind auf den männlichen Blick zugeschnitten. Und diese Kleidungen produzieren ganz bestimmte Arten des Menschseins. Der traditionelle iranische Tschador besteht aus vielen Schichten, die von der Trägerin ständig zusammen gehalten werden müssen. Vor allem bei älteren Frauen ist noch die Gewohnheit zu beobachten, ein Stück Schleier zwischen die Zähne zu stecken, wenn die Hände frei sein müssen. Ahmt man diese Körperhaltungen nach, entsteht ein Gefühl der ständig angespannten Selbstkontrolle. Es ist anstrengend, sich so verhalten zu müssen. Das gilt jedoch auch für Stöckelschuhe und ständig zurückgezogene Schultern. Die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sind noch nirgends ausgeglichen.

Die Toten und die Nackten

In Mexiko fiel mir eine Reihe von Boulevardzeitungen auf, die ihre Titelseiten immer nach dem selben Muster bestücken. Die obere Hälfte der Seite wird von einer Nachricht über ein Verbrechen oder einen Unfall dominiert, in der Regel mit Bildern der Opfer. Auf der unteren Seitenhälfte gibt es das Bild einer mehr oder weniger nackten Frau, die mit wenigen Worten vorgestellt wird. Eine grelle Mischung aus Tod und Sex, die das Auge des Passanten verführen will.

Elias Canetti schreibt, dass die Menschen nichts mehr fürchten, als die Berührung durch das Unbekannte. Die Opfer auf den Titelseiten kennen den Tod, ihre Körper sind unheimlichen Kräften unterworfen worden. Aus sicherem Abstand heraus ist das sehr interessant zu betrachten. Die untere Seitenhälfte liefert die passende Ergänzung zur These Canettis: Die Menschen begehren nichts mehr, als die Berührung des noch Unbekannten. Bedrohung und Verlockung sind eng verwoben.

Literatur

Žižek, Slavoj 2005. Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Texte