Virus

Reproduktion und Metapher

Worum es sich bei Viren genau handelt, ist so unklar, dass sich Biologen nicht darüber einig sind, ob sie als Lebewesen bezeichnet werden sollten oder nicht. Einerseits können Viren sich eindeutig vermehren, andererseits haben sie keinen eigenen Stoffwechsel und sind nicht reizbar. Sie bestehen aus Ketten von Nukleinsäuren, die Wirtszellen dazu bringen, Kopien ihrer selbst anzufertigen. Diese werden je nach Art mit Kapseln, Membranen und Enzymen versehen, um in andere Zellen gelangen zu können.

Es ist ebenfalls umstritten, ob Viren eine frühe Form des molekularen Lebens darstellen, oder ob sie das Ergebnis längerer Evolutionsprozesse sind, in deren Verlauf sich ein Parasit erfolgreich von seinem eigenen Stoffwechsel getrennt hat. Es gilt jedoch als sicher, dass beispielsweise im menschlichen Genom weite Bereiche zumeist inaktiver DNA vorhanden sind, die große Ähnlichkeit mit den Nukleinsäuren verschiedener Viren haben. Diese langen Ketten genetischer Information sind für die Menschen selbst scheinbar nutzlos, sie werden jedoch in jeder Zelle des Körpers unter hohem Energieaufwand mit kopiert. Handelt es sich bei Viren um molekulare Parasiten, deren Erfolg sich daran messen lässt, ob sie irgendwann vom Wirtskörper massenhaft reproduziert werden, ohne dessen Lebenszeit wesentlich zu verkürzen?

Der Begriff „Virus“ wird in der Gegenwart stark ausgeweitet und immer häufiger als mehr oder weniger passende Metapher verwendet. Am bekanntesten sind die Computerviren. Sie teilen mit organischen Viren die Eigenschaft, dass es sich um Abschnitte digitaler Information handelt, die alle möglichen Auswirkungen auf das betroffene System haben können.

Bei der Anwendung des Virusbegriffs auf elektronische Geräte ist bemerkenswert, dass viele medizinische Metaphern mit transportiert werden. Sogenannte „Anti-Viren-Software“ verwendet Begriffe wie „Diagnose“, „Desinfektion“ und „Quarantäne“. Der Rechner wird so zum krankheitsbefallenen Körper, dem Heilung versprochen wird. Gleichzeitig entwickelt sich der Computer zur zentralen Metapher für das Gehirn. Es wird als Prozessor vorgestellt, der sensorische Daten verarbeitet und auf bisher unbekannte Weise am Ende die Psyche ausgibt. Der Austausch von unpassenden Metaphern fließt in beide Richtungen.

Der ältere William Burroughs bezeichnet das Wort als Virus, das sich des menschlichen Kehlkopfes bemächtigt habe, um sich in Form von gesprochenen Lauten und Schrift zu reproduzieren. Mit der Begeisterung eines Vorsokratikers beginnt er mit Tonbandaufnahmen zu experimentieren und ist schließlich überzeugt davon, durch das Abspielen von zusammengeschnittenen und überlagerten Wortfetzen seine Umwelt manipulieren zu können. Dabei blendet er aus, dass Worte immer Teil einer sozialen Handlung sind und zahlreiche Interaktionsebenen benötigen, um wirksam zu sein.

Die Auffassung, dass es soziale Befehlsketten gibt, die abgeschlossenen Informationseinheiten entsprechen und sich mehr oder weniger erfolgreich fortpflanzen, wird auch von Autoren wie Richard Dawkins und Daniel Dennett vertreten. Sie folgen dabei der Vorstellung, dass Regelsätze wie „Es gibt nur einen Gott!“ einen der Entwicklung von Organismen ähnlichen Evolutionsprozess durchlaufen. So wie die Gene die Anweisungen zum Aufbau eines vermehrungsfähigen Körpers enthalten, sollen sogenannte „Meme“ abstrakte Regeln darstellen, die den Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft ermöglichen. Dabei wird der Hoffnung gefolgt, der unausmessbare Bandbreite menschlichen Zusammenlebens in einen statistisch-biologischen Rahmen pressen zu können, in dem weder Machtzusammenhänge noch historische Einzelheiten berücksichtigt werden müssen. Gesellschaftliche Praxis lässt sich jedoch nicht in leistungsfähige Gleichungen überführen, die dann bequem anhand von Computersimulationen erforscht werden können.

Literatur

Austin, John 1962. How to Do Things with Words. Oxford: Clarendon Press.

Burroughs, William (1970) 2001. The Electronic Revolution. Bonn: Expanded Media Editions.

Ridley, Matt 2000. Genome: The Autobiography of a Species in 23 Chapters. London: Harper.

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