Zweifel

Erkenntnis und Grenze

Was alltäglich für die Wirklichkeit gehalten wird, ist eine neurochemische Reaktion auf eine rasende Welt. Menschliche Wahrnehmung ist auf den mesoskopischen Bereich von Zentimetern und Metern ausgelegt. Durch eine Reihe von Techniken können die Kenntnisse über die Bereiche jenseits des menschlichen Gesichtskreises ausgedehnt werden. Diese Einsichten lassen sich jedoch nur durch die Vermittlung von audiovisuellen oder sprachlichen Repräsentationen begreifen.

Für Platon ist die Wahrnehmung eine alltägliche Illusion, hinter der es zeitlose Geometrie zu entdecken gibt. Sokrates und er werden in philosophischen Genealogien dafür gerühmt, dass sie das Erkennen selbst sowie Fragen der Ethik zu ihrem Gegenstand gemacht haben, während ihre Vorgänger sich vor allem mit Naturkunde, Mathematik und Rhetorik beschäftigt hätten. Mit diesen Schwerpunkten steckt die institutionelle Philosophie auch die Grenzen der eigenen Disziplin in der Gegenwart ab. Da an der Akademie vor allem Schrift konsumiert und produziert wird, kann sich leicht der Schluss aufdrängen, dass die Welt ausschließlich aus Text besteht. Dies führt zu einer sterilen Konzentration auf erkenntnistheoretische Fragen, die unabhängig von ihrer gesellschaftlichen, ökonomischen und rituellen Einbettung behandelt werden. Dabei gerät in Vergessenheit, dass viel mehr erlebt als verstanden und die Psyche von wortlosen Prozessen angetrieben wird.

Sokrates war sich der Tatsache, dass die Menschen nur einen kleinen Teil der Welt darstellen und verstehen können, nur zu bewusst. Die Grenzen der Erkenntnis drückt sein Zeitgenosse Protagoras von Abdera vor rund 2.500 Jahren treffend aus: „Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, dass es sie gibt, noch dass es sie nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben; denn vieles hindert ein Wissen hierüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens.“

Dass nichts sicher gewusst werden kann, weil die Menschen beschränkte Bewohner einer größtenteils undurchsichtigen Welt sind, wird im alltäglichen Umgang selten thematisiert. Das Eingeständnis der eigenen und die Erkenntnis der fremden Begrenztheit und wirft ein grelles Licht auf das „Als ob“ des öffentlichen Lebens. Es ist eine aufgeklärte Haltung, die nicht von offiziellen Stellen eingenommen werden kann, weil sie die gesellschaftlichen Machtbeziehungen und religiös-staatlichen Erzählungen als zufällige Willkür erscheinen lässt, die zum Zweifel an der Notwendigkeit der bestehenden Verhältnisse auffordert.

Literatur

Clifford, James und Marcus, George 1986. Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Los Angeles: University of California Press.

Davidson, Donald 1993. Der Mythos des Subjektiven. Stuttgart: Reclam.

Hirschberger, Johannes 1952. Geschichte der Philosophie. Freiburg: Herder.

Müller, Klaus 1997. Geschichte der antiken Ethnologie. Reinbek: Rowohlt.

Texte