Ist es normal, nur weil alle es tun? Ja.

Die ethnologische Perspektive, die mir viel bedeutet, lässt sich gut zusammenfassen in dem Satz:

Was gilt zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort als normal?

Hier lassen sich mehrere Schichten unterscheiden. Das Thema „Was ist gut, gesund und richtig?“ ist ständig der Gegenstand von Kontroversen innerhalb einer Kultur. Es gibt aber auch Vorstellungen und Handlungsweisen, die so wenig umstritten sind, dass sie praktisch nie oder nur sehr selten zur Debatte stehen. Werden sie thematisiert, hat das schnell etwas Skandalöses, es wird „zu weit“ gegangen. Was sich selbstverständlich und unhinterfragbar anfühlt, tritt bei uns vor allem in der Gestalt der „Natur“ auf. Wenn etwas einfach natürlich ist, ist es normal, gesund und meistens auch gut, und wenn nicht gut, dann zumindest verständlich. So hofft man zu sein.

Genau da sitzt die Ideologie als Natur getarnt, ganz tief verdrahtet und erlernt, Abweichungen von ihr stellen nicht nur abstrakte gedankliche Herausforderungen da, sie rufen oft direkt Angst und Ekel hervor. „Nicht normal zu sein“ ist eine absolute Horrorvorstellung in unserer Kultur – obwohl wir die absolute Einzigartigkeit jedes Individuums über alles schätzen.

Wir wollen sehr individuell und eigenständig unverwechselbar sein, aber innerhalb eines abgesteckten Korridors der Normalität. Niemand will „abnormal“ sein, das klingt nach Perversion, Wucherung und Wahnsinn. Gleichzeitig gilt bei vielen „ganz normal“ auch als langweilig und vermeidenswert. Der Korridor ist breit heutzutage, hat aber klare Grenzen.