Flackern

Wahrnehmung und Umwelt

Wir sind jeden Tag für mehr als eine halbe Stunde blind. Der Grund dafür sind die sogenannten „Sakkaden“ und ihre Maskierung. Dabei handelt es sich um die Abstände zwischen den zahlreichen Blicksprüngen, die unsere Pupillen in jeder Sekunde vornehmen. Während dieser Sprünge sieht man nichts, das Bewusstsein nimmt diese mehrmalige Blindheit pro Sekunde jedoch nur selten wahr. Die visuelle Wahrnehmung der Welt ist das Produkt eines flackernden Daumenkinos.

Die Wahrnehmung der Menschen ist auf die Ungleichheit der Welt ausgelegt. Was sich schnell verändert, ist interessant. Das Lagerfeuer und der Bildschirm teilen die Ähnlichkeit, dass sich Menschen gleichzeitig vor ein flackerndes Licht setzen und viel Zeit damit verbringen können, im Ruhezustand rasante Veränderung zu beobachten. Der Mensch ist sowohl der Welt als auch sich selbst stets hinterher. Die allermeisten Organfunktionen und Handlungen sind nicht von Aufmerksamkeit und Planung abhängig. Alfred Whitehead schreibt treffend, dass der Mensch von Geburt an in Aktion eingetaucht ist, die er nur ab und zu durch Gedanken leiten kann.

Wer von „Umwelt“ spricht, kann entweder die Welt außerhalb eines Organismus oder die spezielle Weltwahrnehmung dieses Organismus meinen. Tim Ingold folgt der letzteren Bedeutung und nennt den vielschichtigen Austauschprozess zwischen einem Lebewesen und der restlichen Welt stattdessen „environment“ („Umgebung“). Unter diesem Begriff versammelt er Netzwerke, deren Verbindungen aus Energie und Macht die Menschen als „organism-person“ produzieren.

Der deutsche Begriff „Umwelt“ ist für Ingold in phänomenologischer Tradition das, was der Mensch von der Welt mitbekommt. Die Wahrnehmung der Umwelt bedeutet für ihn nicht, ihre statischen Inhalte zu registrieren, sondern angeregt zu verfolgen, was los ist. Sinnesorgane funktionieren nicht wie Spiegel oder Sensoren, deren Daten erst in einem zweiten Schritt kognitiv verarbeitet werden. Das Dasein ist interessegeleitet auf die Veränderung der Umwelt gerichtet und von ihr bestimmt.

Für beide Bedeutungen von Umwelt – Austauschprozess oder Weltwahrnehmung – gilt, dass sie von Menschen gestaltet wird. Die Umwelt von heute ist die Infrastruktur. Was alltäglich als Natur oder natürlich bezeichnet wird, ist ein durch und durch gesellschaftliches Produkt. Wer seinen Blick noch vom Bildschirm erhebt, blickt auf organisierte Landschaft. Das geschieht oft auf der Durchreise, im flackernden Reich der Mobilität, das Paul Virilio als „Land der Geschwindigkeit“ und „Nicht-Ort“ beschreibt. Dazwischen liegen Bahnhöfe, Raststätten und Flughäfen, die wie alle anderen öffentlichen Orte immer mehr auf Konsum zugeschnitten werden.

Literatur

Ingold, Tim 2000. The Perception of the Environment. Essays in Livelihood, Dwelling and Skill. New York: Routledge.

von Uexküll, Jakob Johann 1909. Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: J. Springer.

Virilio, Paul 1992. Rasender Stillstand. München: Hanser.

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