Machtdimension

Gewalt und Unterdrückung

Macht im Sinne von „vermögen, können“ bezieht sich auf die Möglichkeit, über eigenes und fremdes Leben bestimmen zu können, nicht auf eine konkrete Tat. Elias Canetti schreibt, dass Gewalt immer unmittelbar und direkt ist. Macht ist für ihn die raumzeitliche Verschiebung von Gewalt. Dazu führt er das Beispiel einer Katze an, die mit einer Maus spielt. Sie lässt los und gibt ihrem verwundeten Opfer etwas Raum, aber nur so viel, wie für das Spiel notwendig. Die Sicherheit dieser Art des Eigentums hat eine große Anziehungskraft auf die Bewohner einer sich stets wandelnden Welt.

Canetti beobachtet, dass sich das Thema der räumlich und zeitlich verschobenen, aber jederzeit möglichen Gewalt auch in den Symbolen und Werkzeugen der Macht ausdrückt. Wappentiere wie Löwe, Wolf, Adler oder Greif sind äußerst schnell und können unerbittlich zupacken. Waffen verleihen Macht, da sie den Radius jederzeit möglicher Gewalt erweitern. Am schnellsten ist der Blitz, der daher oft als Waffe der mächtigsten Wesen überhaupt gilt.

Jeder Befehl wurzelt für Canetti in einer ursprünglichen „Todesdrohung„, die im Ausführenden einen „Befehls-Stachel“ hinterlässt. Diese Stacheln sammeln sich im Menschen an und werden als fremd empfunden. Sie können nur abgeschüttelt werden, wenn die Befehlssituation in umgekehrter Rollenverteilung nachgespielt und der Stachel weitergegeben wird. Mit dieser bildhaften Beschreibung will er die Tatsache erklären, dass aus den Gepeinigten oft die schlimmsten Peiniger werden.

Die phänomenologisch-anthropologischen Betrachtungen Canettis kreisen um den Gedanken, dass die Befehls-Stacheln als psychische Fremdkörper in allen Menschen verbleiben, die einen Befehl empfangen und ausgeführt haben. Daher muss er voraussetzen, dass sich die Menschen von diesen äußeren Einflüssen stets befreien wollen. Dadurch wird die beunruhigende Feststellung umgangen, dass die Unterdrückten die eigene Unterdrückung oft für selbstverständlich halten und sie aktiv mit reproduzieren. Dieser Umstand wird als Frage nach dem „inneren Faschismus“ von Autoren wie Gilles Deleuze und Michel Foucault behandelt. „Macht“ wird in ihren Beschreibungen zu einem rätselhaften Fluidum, dem sie durch die Analyse von gesellschaftlichen Entwicklungen und psychischen Verhältnissen nachstellen. Dabei wird Macht nicht als festes Attribut eines Akteurs verstanden, sondern als dynamisches Regelinventar, das als „natürliche Ordnung der Dinge“ gesellschaftlich durchgesetzt wird.

Foucault betreibt eine „Mikrophysik der Macht“ und beschreibt die Geschichte der gesellschaftlichen Apparate, die der Unterwerfung des Körpers dienen. Dabei interessiert sich Foucault besonders für die Verschränkung von Macht, Sprache und Wissen. In „Überwachen und Strafen“ analysiert er die Umwälzung der europäischen Strafsysteme in den letzten 200 Jahren und verknüpft diese mit dem Entstehen der Gesellschaftswissenschaften. Im Mittelalter ist das Gerichtsverfahren geheim und die Bestrafung eine öffentliches Marterschauspiel. Mit Beginn der Aufklärung rücken Ermittlung und Verurteilung in die Öffentlichkeit, während sich die Strafe in ein geheimes Disziplinierungsverfahren verwandelt. Sie richtet sich nun weniger auf ein vergangenes Verbrechen als auf die mögliche Zukunft des Delinquenten. Das Strafmaß wird an eine wissenschaftliche Prognose über künftiges Verhalten geknüpft. Moderne Disziplinierungsregimes verzichten auf das feierliche Zermalmen von Körpern und setzten stattdessen zunehmend auf technologische und monetäre Überwachung, die von einer verführerischen Warenwelt verdeckt wird.

Im Gegensatz zu Canetti beschäftigt sich Foucault ausführlich mit dem Umstand, dass die Unterdrückten in der Regel auch Unterdrücker sind und umgekehrt. Der „Faschismus im Kopf“ bedeutet für Foucault, die Machtausübung zu lieben und die Unterdrückung zu begehren. Wie Deleuze hegt er den Verdacht, dass diese gegenläufige Bewegung sowohl Produzent als auch Produkt aller Formen menschlicher Kooperation ist.

Bertrand Russell fordert, dass Macht die Grundeinheit der Gesellschaftswissenschaften sein müsse, so wie Energie die grundlegende Größe der Physik ist. Damit unterstreicht auch er, dass jede Form von gesellschaftlicher Interaktion eine Machtdimension hat, der sich die Akteure mehr oder weniger bewusst sind. Sie äußert sich in dynamischen Unterwerfungsstrategien und Herrschaftsgesten, die sowohl bewusst als auch unbewusst erlernt und angewendet werden. Diese stets wirksamen gesellschaftlichen Machtstrukturen bilden ein kompliziertes Netzwerk asymmetrischer Beziehungen, in das jedes organisch-soziale Wesen eingeflochten ist.

Literatur

Foucault, Michel 2008. Die Hauptwerke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Russell, Bertrand (1938) 1973. Macht. Wien: Europaverlag.

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