Zufall und Schicksal
In der ethnographischen Literatur werden häufig Gesellschaften beschrieben, in denen ein „natürlicher“ Tod nicht bekannt ist. Jeder Todesfall ist ein Mord, auch wenn es wie ein Unfall oder eine Krankheit aussehen mag. Er kann durch Lebende oder auch durch bereits Tote verübt worden sein, und die Mörder müssen nicht einmal wissen, dass sie es getan haben. Es kann im Traum geschehen sein oder durch irgendwelche anderen dunklen Wege. Wichtig ist, dass niemand einfach so stirbt, dass jeder Tod seinen Sinn im Wollen eines anderen findet.
Ein von Evans-Pritchard überliefertes Beispiel stammt von den afrikanischen Azande. Die Pfosten eines Vordaches waren von Termiten befallen worden, und als es einstürzte, tötete es den darunter Sitzenden. Den Beteiligten war vollkommen klar, dass der Grund für den Einsturz des Vordaches die Termiten waren. Aber dass es gerade dann einstürzte, als der Unglückliche darunter saß, das war ein mörderischer Anschlag. Der Preis für dieses soziale Universum, das sich ganz um die Geschäfte der Menschen dreht, ist die Blutfehde.
Der koloniale Forscher spricht stattdessen von Zufall und bescheinigt der beschriebenen Gruppe eine narzisstisches Weltbild, da jedes Ereignis mit sozialer Bedeutung besetzt wird. Niklas Luhmann meint, die Welt wird dann als Kommunikation gesehen. Die Sonne ist eine Nachricht, sie ist für uns dort hingesetzt worden. Die wissenschaftliche Herangehensweise besteht hingegen gerade darin, davon auszugehen, dass es auch ohne Menschen geht. Die meisten Dinge geschehen unabhängig von menschlichem Handeln, aus einer Vielzahl von Gründen – sie sind Zufall. Doch der Begriff wird bei näherer Betrachtung sehr mysteriös. Was ist beispielsweise eher ein Zufall, das Eintreten der geringsten oder der größten Wahrscheinlichkeit? Verbindet der Zufall die Dinge oder wirbelt er sie durcheinander? Diese Unklarheiten scheinen im Alltag keine Rolle zu spielen. Die wichtigste Bedeutung des Begriffs ist wohl: „Es hätte auch anders kommen können und hat nichts mit Dir zu tun.“
Rationalität ist keine Herausforderung für die Religion, denn sie kann problemlos als Attribut Gottes verstanden werden. Die wirkliche metaphysische Beleidigung besteht in der Behauptung des „blinden Zufalls“, denn was wäre ein blinder Gott?
Bild: ~CRODEART, CC BY-ND 3.0
Doch zumindest ein wenig Zufall muss im alltäglichen Leben von allen akzeptiert werden. Baudrillard hegt den Verdacht, dass er schon aus Gründen der sozialen Morphologie benötigt wird – in der urbanen Massengesellschaft kann nicht jede Interaktion als bedeutungsschwanger wahrgenommen werden. „Es war notwendig, dass diese Aura, die die Gesten und Körper umgibt, zerstört wurde, damit sie sich zufällig in den Straßen begegnen, sich in so großer Anzahl in den Städten und den Lagern konzentrieren, sich annähern und in der Liebe vereinigen konnten.“
Warum werden naturwissenschaftliche Beschreibungen der Welt als langweilig empfunden? Woher kommt dieses Gefühl der Entzauberung der Welt? Früher war die Sonne der Wagen eines Gottes, heute ist sie ein riesiger brennender Ball aus Gas, wunderbar ist das gleichermaßen. Doch der Gott hat eine soziale Geschichte, erfüllt eine Funktion für die Menschen, der Gasball ist einfach nur zufällig da – er könnte auch nicht da sein und wurde nicht für uns dort hingesetzt. Im Planetarium wird gezeigt, wie klein und abseitig die Erde ist, und alles weitere langweilt dann die meisten Leute. Weil es weder spannend noch relevant ist, ob es nun 10 Millionen oder 100 Milliarden Sterne in der Milchstraße gibt. Was bleibt, ist ein Bild der Welt als gähnende Leere. Hier und da schwirren ein paar Atome umher und verhalten sich nach den Naturgesetzen. Nichts, das viel mit uns zu tun hätte. Dass der Mythos der Wissenschaft so mager ist, nur manchmal durchbrochen durch enthusiastische Angelsachsen, die erklären, dass jedes Molekül unseres Körpers im Herzen eines Sterns geboren wurde, hat vermutlich den Grund, dass er in direkter Abgrenzung zur Religion entstanden ist. Trotz oder gerade wegen seiner metaphysischen Schwindsucht ist der wissenschaftliche Mythos möglicherweise der Erfolgreichste. Er arbeitet mit der Autorität der Zahlen und einer Indifferenz, die sich problemlos übersetzen lässt.
Die wissenschaftliche Demut, die Ablehnung der narzisstischen Lesart eines egozentrischen Universums, der reflexive Schritt hinter die eigenen Interessen und Vorurteile, letztendlich die gerechte Beurteilung der Dinge, das sind unverzichtbare Elemente eines fruchtbaren Gesprächs über die Welt. Sie produzieren jedoch auch eine unmenschliche Sterilität, in der die Existenz eine kalte und sinnlose Gestalt annimmt, die nur wenig trösten kann. Ohne Liebe geht es nicht. Denn eigentlich gibt es gar keine Leere, nur Abstände. Wenn alles passiert, was passieren kann, dann ist die Welt übervoll. Wenn aber nur einiges von dem passiert, was passieren kann, dann hat alles, was passiert, mit allem zu tun, was bereits passiert ist. Wenn wir in der Welt sind, weiß zumindest ein kleiner Teil der Welt von sich selbst und schaut sich durch uns an. Ein rätselhaftes, wunderbares und grausames Spiel der Verwandlung, dem sich niemand entziehen kann.
Literatur
Evans-Pritchard, E. E. 1976. Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande. Oxford University Press.
Texte
- Initiation
- Geschwindigkeit
- Leere
- Rhythmus
- Wunschmaschinen
- Todestag
- Infrastruktur
- Kritik
- Verführung
- Essenzen
- Unsicherheit
- Virus
- Transgression
- Cyborgs
- Normalität
- Einschreibung
- Nervenfeuer
- Blick
- Kosmologie
- Affen
- Erleuchtung
- Geschichte
- Elastizität
- Rassenlehre
- Geld
- Interaktion
- Zweifel
- Machtdimension
- Kopfjagd
- Unwägbarkeit
- Flackern
- Reizbarkeit
- Netzwerke
- Innovationsspirale
- Verausgabung